Unwegbarkeiten

(zur Hörfassung)

Ich stehe am Fenster eines der schönen, alten Hotelzimmer im HECHT an der Grenze, in Gottlieben, schaue hinaus, vor mir der See- Rhein, dahinter Deutschland, das Wollmatinger Ried, ein weiter Himmel, Schilf, Weiden, Refugium der Vogelwelt,  in der Ferne sehe ich die Vulkanberge des Hegau. Wolken türmen sich auf. Sie spiegeln sich im Wasser, das fast unmerklich fließt, das Bild vom auf die Erde heruntergeholten Himmel verzerrt sich kaum auf der nur leicht gekräuselten Wasseroberfläche.

Ich blicke auf eine Staatsgrenze, die sich hier nicht zeigt, von der ich an dieser Stelle nur weiß. Wenige Kilometer weiter, zwischen Konstanz und Kreuzlingen, ist sie sichtbar. Rheinaufwärts kann ich die Ausläufer von Konstanz sehen. Ich habe diese Grenze unzählige Male passiert, seit ich denken kann. Ich bin auf der anderen Seite des Sees aufgewachsen.

Wenn ich als Kind versonnen am Küchentisch saß und in eine nicht definierte Ferne sah, fragte meine Großmutter oft, halb mahnend, halb scherzend: „luegsch wiedr ind Schweiz?“ Das blieb mir als Ausdruck, den ich nirgends sonst fand. Ich weiß bis heute nicht, ob das ein innerfamiliärer Satz ist, oder ob er verbreitet war als Synomym für’s Tagträumen, für’s sich Fortträumen.

Ich verbinde diesen Satz auch nur mit dieser einen, sich oft wiederholenden Situation, am Küchentisch, hinausschauend, keinesfalls die Schweiz sehend, sondern Hecken,  Bäume und die Häuser und Gärten der Nachbarschaft. Nur die Richtung stimmte. Wenn man in diese Richtung lief, man zum Seeufer kam, konnte man hinüber schauen in die Schweiz, ans andere Ufer.

Ich erinnere mich an die wechselnden Farben des Sees, an seine Wildheit und Stille, das jeden Tag andere Licht, an Spiegelungen, Lockung, Bedrohung, Klarheit, Abgrund. Der See war immer Bezugspunkt, war immer auch ein allumfassendes Gegenüber. Der See markierte ein Hier und ein Dort, das Ufer markierte eine Grenze. Der See selber markierte eine Grenze, am anderen Ufer war ein anderes Land, eine andere Landschaft, waren die Berge. Und diese Berge waren manchmal zum Greifen nah und dann wieder verschwunden. In wolkenverhangenen Zeiten war Letzteres nicht verwunderlich, aber dass sie  selbst an sonnigen Tagen vom leichtesten Dunst verschluckt werden konnten, hatte etwas Magisches, das nie seine Faszination verlor. Wenn sie aber da waren, die Berge, wenn sie  nah rückten, sich in den freien Blick schoben, dann war ihr Anblick immer wieder Sensation, die sich nie erschöpfte.  Dahinter lag ein mir unbekannter Raum.

Der bot sich an als Projektionsfläche, war Verheißung, provozierte Träume, löste  Imagination aus. IND SCHWEIZ LUEGE . Vielleicht konnte ich deshalb Künstlerin werden.

Jetzt  stehe ich auf der anderen Seite, in der Schweiz, und blicke auf den fließenden Rhein, der den Obersee mit dem Untersee verbindet. Zu den Bildern der geografischen Grenze treten Erinnerung und Wissen um die politische Grenze.

Mir fällt ein, wie ich im Dezember 2008 nach langer Zeit wieder nach Konstanz gekommen war. Ich war eingeladen zu einem Kunst-Wettbewerb für ein Denkmal für Georg Elser. Ich wollte mir den Ort ansehen, an dem das Denkmal stehen sollte: ein Villengarten in der Schwedenschanze, hier wurde Georg Elser am Abend des 8.November 1939 in Konstanz beim Versuch, in die Schweiz zu fliehen, verhaftet. Er wurde in Dachau interniert, dort 1945 ermordet. So steht es auch auf der Tafel vor eben jenem Garten an der Schwedenschanze.

Ich hatte das nicht gewusst, nichts von dem Bezug von Elser zu Konstanz, nicht, dass er hier einige Jahre gelebt hatte, nichts vom Fluchtversuch in die Schweiz, nichts von der folgenreichen Verhaftung. Ich selber habe zwei Jahre hier gelebt, vor weit über dreißig Jahren, habe in unmittelbarer Nähe dieses idyllischen Schwedenschanzengartens fast täglich die Grenze passiert. Und nichts davon gewusst.

Jetzt erinnere ich mich, wie ich 2008 verloren dastand, den weitläufigen Garten, der heute zu einer sozialen Einrichtung gehört, betrat, vor mir eine Villa und Spielgerät und eine Büste des Stifters von Wessenberg, alter Baumbestand, hinter dem Gebüsch ein einfacher Drahtzaun, dahinter die Schweiz. Ich ging die parallel zur Grenze verlaufende Straße zurück, ging über den Kreuzlinger Zoll. Damals gehörte seit gerade einer Woche auch die Schweiz zum Schengenraum. Die Ausweiskontrollen waren auch hier  endgültig abgeschafft. Das hatte ich gelesen und dachte daran, dass es sie de facto doch schon länger nicht mehr gab, wenn wahrscheinlich auch nur für die, die mitteleuropäisch und unauffällig aussahen. Galt die Freizügigkeit von nun an auch für all die anderen? Ich wusste es nicht.

Ich ging an den verwaisten Kontrollhäusern vorbei, in deren Innern ich gleichwohl Zollbeamte im Hintergrund irgendetwas hantieren sah. Mein Beklemmungsgefühl an Grenzen hat nie aufgehört. Während meines Spaziergangs begann es dunkel zu werden. Ich lief auf der Schweizer Seite auf die andere Seite des Gartenzauns. Schaute in den nun fast im Dunkel liegenden Garten, stellte mir vor, wie sich da einer versteckt, im Schutz der Büsche voran schleicht, voller Angst, voller Mut, wie er auf dem Weg zum vermeintlich sicheren anderen Land die Deckung vielleicht verlassen muss. Vielleicht rennt er ja auch, von Anfang an.

Er, der es geschafft hatte, sich monatelang, Nacht für Nacht, in München, im Bürgerbräukeller unbemerkt einschließen zu lassen, um in minutiöser Arbeit eine Säule auszuhöhlen und einen Sprengsatz mit Zeitschaltuhr einzubauen. Der ebenso unbemerkt Morgen für Morgen einen Koffer voller Bauschutt hinausgetragen und keine Spuren hinterlassen hat, der schafft diese letzten paar Meter nicht.

Der hatte nicht damit gerechnet, dass ein Zöllner sich von seinem Posten am Grenzübergang davonstiehlt, weil er Hitlers Rede hören will, die dieser im Bürgerbräukeller in München an diesem Abend hält. Und der Zöllner findet dazu die Gelegenheit in diesem sonst unbewachten Konstanzer Garten, wo er unter einem geöffneten Fenster der Villa die  Radioübertragung heimlich mithört.

Und nur deshalb, weil er sich hier unerlaubterweise aufhält, bemerkt er, wie sich da einer verdächtig Richtung offener grüner Grenze schleicht, einer, den er vorsorglich verhaften muss. In seiner Tasche hatte Georg Elser ein paar kleine Teile eines Sprengsatzbausatzes bei sich, er hatte gehofft, mit diesen Beweisstücken politisches Asyl in der Schweiz zu erwirken. Jetzt überführten ihn diese Teile auf der gerade noch falschen Seite der Grenze der Tat. Während er am Bodensee noch als ein nur irgendwie Verdächtiger verhört wurde, explodierte in München der per  Zeitschaltuhr gezündete Sprengsatz. Hitler ist da schon auf dem Weg nach Berlin. Er hatte den Bürgerbräukeller an diesem Abend früher als geplant verlassen.  „Ich habe den Krieg verhindern wollen“, hat Elser später in einer Vernehmung zu Protokoll gegeben.

Ich ging zurück zur Hauptstrasse und lief zur Freien Strasse 28, dorthin, wo ich dreißig Jahre zuvor gewohnt hatte. Zu der Zeit wohnten viele Studentinnen und Studenten der Konstanzer Universität in vernachlässigten, billig zu mietenden Häusern in Kreuzlingen. Es gab ein entsprechendes Abkommen zwischen den beiden Ländern, es gab ein festgelegtes Kontingent, die Aufenthaltsbewilligungen wurden innerhalb der Wohngemeinschaften weitergereicht, sie verblieben gewissermaßen bei den Zimmern.

Jetzt, im Dezember 2008, stand ich erneut vor meinem ehemaligen Wohngemeinschaftshaus. Die Stirnfassade sah noch aus wie eh und je, bräunliches, schäbiges Grau, zur Straße hin war das Haus freundlicher gestrichen, es sah alles ordentlicher aus als früher. Ich zögerte und ging dann nicht ins Haus – wozu auch? Nach dem Haus kommt die Bahnschranke, kommen die Geleise, dahinter beginnt wieder Deutschland, einen Steinwurf weit entfernt. Ich aber ging in die andere Richtung, Richtung Kreuzlinger Zoll zurück, versuchte, mich zu erinnern, wie sich das angefühlt hatte, damals, als ich im Herbst 1977 hierher gezogen war. Ein Zettel hing am  schwarzen Brett an der Uni „Zimmer in Wohngemeinschaft frei“. Warum also nicht in der Schweiz wohnen? Alles war aufregend und neu für mich: die Uni, zum ersten Mal im Leben in eine Wohngemeinschaft  ziehen, Desorientierung zwischen all den politischen Hochschulgruppierungen, Liebeswirrnisse, mein Staunen über die überbordende akademische Welt.

Überraschend waren die Fragen am Schweizer Zoll, nach der uralten Schreibmaschine in meinem Umzugsgut, nach den wenigen Büchern, nach den als Antiquitäten verdächtigten Stühlen, selbst den Wert der alten Matratzen wollten sie wissen, schickten mich zum Deklarieren meiner wenigen Habe zum Hauptzoll, wo mich die Zöllner schulterzuckend, vielleicht auch spöttisch abgefertigt haben – ein blödes willkürliches Spiel.  Aber ich hatte nun eine Aufenthaltsbewilligung. Fürs Fahrrad brauchte ich eine Versicherungsplakette; Einfuhrvorschriften für Fleisch und Alkohol waren zu beachten. Nach Deutschland einführen wiederum durfte ich – mit grenznahem Hauptwohnsitz – Kaffee, Tabak und Tee nur in eng begrenzten Mengen.

So war das, so hatte ich das auch schon gekannt, so oder ähnlich und schlimmer: mit der Mutter sind wir zum Einkaufen in die Schweiz gefahren, hin und wieder, als wir noch Kinder waren. Kaffee, Tee und Schokolade waren billiger und anders und köstlicher. Also fuhren wir manchmal mit dem Schiff von Überlingen aus zum Einkaufen nach Kreuzlingen; vielleicht war das auch einfach willkommener Anlass für einen Ausflug über den See, Vorwand, lieb gewonnenes Ritual. An diesem Tag aber kamen wir zunächst nicht weit: Meine Mutter hatte aus Versehen den Ausweis meines Vaters anstatt ihren eigenen eingesteckt; erst der Zöllner hatte das bemerkt. Sie musste mit ins Zollgebäude um das zu regeln, und mein Bruder und ich mussten draußen warten. „Wenn Ihr Glück habt, bekommt ihr Eure Mutter wieder“ sagte der Zöllner und ließ uns stehen und ich erinnere mich, wie ich  Rotz und Wasser geheult habe, klein wie ich noch war. An diese abgrundtiefe Verzweiflung denke ich bei jedem Überschreiten von staatlichen Grenzen. Bis heute. Daran dachte ich auch beim Umzug nach Kreuzlingen.

Merkwürdig wie damals Matratzen und Schreibmaschine und mein weiteres sparsames Hab und Gut so eine Rolle spielen konnten – für die Schweizer Zöllner. Für die Deutschen Zöllner spielte das keine Rolle; sie waren nervös. Es war der Herbst 77, der Deutsche Herbst. Die Deutschen Zöllner interessierten sich auch für Kaffee, Tee, Tabak, Schokolade, wenn wir, von der Schweiz kommend, einreisten. Wenn wir ausreisten aus Deutschland, interessierten sie sich für unsere Ausweise, unsere Taschen, Kleider, auch für unsere Leiber. Tag für Tag, mehrmals am Tag, bei jedem Übertritt über die Grenze. Wenn nicht, wenn wir ausnahmsweise durchgehen durften ohne weitere Kontrolle, wenn der Blick in den Ausweis zu genügen schien, wenn einer sich doch erinnert hatte an uns als tägliche Pendler, spürten wir die schwer bewaffneten Grenzschützer in unseren Rücken. Die Maschinengewehre waren jederzeit einsatzbereit. Was, wenn wir uns missverstanden hatten? Der Weg nicht freigegeben war? Wenn wir hätten anhalten sollen, aber den Blick nicht verstanden hatten, die Geste, das versteinerte Gesicht. An den Scheiben der Zollgebäude hingen die Fahndungsplakate. Die Grenzer waren ambitioniert und hochgerüstet. Heute kann ich mir auch ihre Angst vorstellen. In Mogadischu war gerade die entführte Landshut von der GSG 9 gestürmt worden; Schleier war tot, Ensslin, Bader, Raspe auch.

Das ganze Land war erfasst von hysterischer Panik. Das war nicht nur an den Grenzen so. Freunde wurden verhaftet, weil sie jemandem, nach dem gefahndet wurde, angeblich ähnlich sahen; Eltern wurden aufgesucht und befragt; Nachbarn denunzierten den Musiker, der mit seinem Geigenkasten sein Haus verließ.

Auch das hatten wir in unseren Köpfen. Manchmal hatte ich Angst am Zoll, manchmal fühlte ich mich, warum auch immer,  als Heldin, manchmal gedemütigt, manchmal gleichgültig. Schnell wird das zur Normalität. Die Eltern besuchten mich. Ich hatte sie an der Fähre abgeholt. Und jetzt gingen wir von Konstanz aus  zu Fuß nach Kreuzlingen. Erst ihr Entsetzen über die Maschinengewehre an der Grenze ließen mich wieder gewahr werden, dass das eben nicht normal war, dass das ein absoluter Ausnahmezustand war, maßlos und hochgepeitscht.

Dann, 2008, war mir die Situation plötzlich wieder sehr gegenwärtig, jetzt, wo die Zollgebäude nahezu verwaist in der Dunkelheit lagen und ich hin- und her spazieren konnte, wie ich wollte. Ich erinnerte mich, wie ich im Herbst 1977 mit meinen irritierten Eltern genau hier stand, wie meine Mutter lautstark verkündete, sie würde mich verstecken, wenn ich Terroristin wäre, sie würde die Fahnder an der Nase herumführen mit immer neuen Verkleidungen und Perücken. So wurde dieser unwirtliche Ort zum Schauplatz einer Erklärung bedingungsloser Liebe meiner Mutter, vielleicht auch eines hilflosen Aufbegehrens gegen eine unverständliche Zumutung.

Und ich erinnerte mich  an die Geschichte, die sie so gern erzählte: Nach dem Krieg durfte man nur winzig kleine Mengen Kaffee aus der Schweiz über die Grenze bringen. Mama hatte mehr dabei, in ihrer Manteltasche. Sie wird ins Grenzhäuschen gebeten, in einen hinteren Raum. Die Zöllnerin soll sie durchsuchen, sagt, noch könne sie sagen, wenn sie Schmuggelware dabei habe, dann käme sie mit einer geringeren Strafe davon. Mama aber  beharrt darauf, nur die vorgezeigte erlaubte kleine Menge bei sich zu haben, zieht ihren Mantel aus, hängt ihn an die Garderobe, lässt sich bereitwillig abtasten, zieht ihren Mantel wieder an und spaziert hinaus. Sie erzählte das immer mit einem spitzbübischen Lächeln. Warum der Mut gerade da? Stolz schwingt da mit, auch in all den anderen kleinen familiären Schmuggelgeschichten, von den in die Locken eingerollten Geldscheinen, im Vesperbrot versteckten Münzen, von angerauchten Zigarren. Kleine Tricksereien wegen drei oder vier Mark, Schummeleien, bei denen es nach dem Krieg um nichts Existenzielles mehr ging. Es ging nur darum, ein paar wenige Mark mehr als die erlaubten fünf in die Schweiz mitnehmen zu können, darum, auf dem Säntis das Vesper bezahlen zu können, einen Schlafplatz in der Almhütte auf dem Weg dorthin, einen oder zwei  Tage länger bleiben zu können in den Bergen. Oder ein- oder zweimal mehr zuhause richtigen Bohnenkaffee anbieten zu können.

Meine Gedanken wanderten zurück zu Georg Elser, in den nahe gelegenen Garten. Bei dem lange Zeit umstrittenen Elser ging es um das Existenzielle, um Leben oder Tod, das wusste er. Elser, der Terrorist, sagten die Einen, noch lange nach dem Krieg. Elser, der Held, sagten und sagen die Anderen.

Viele, bei denen es in jener Zeit auch um Leben oder Tod ging an dieser Grenze, waren weder Terroristen noch Helden, sie wollten einfach nur ihr Leben retten.

Sie kamen aus ganz Europa, in der Hoffnung auf eine sichere Zuflucht vor der Vernichtung. Sie kamen auch aus der unmittelbaren Nähe, aus Konstanz, wo es eine relativ große jüdische Gemeinde gab, von der Höri, aus Wangen, aus Horn.

Jetzt, in Gottlieben, im März 2014,  versuche ich, mir diese Grenze in den späten 30er, den frühen 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu vergegenwärtigen. Ich habe die von Werner Trapp aufgezeichneten Lebenserinnerungen von Erich Bloch gelesen.  Jetzt denke ich daran und auch, dass ich auch das nicht gewusst hatte: wie groß und wie lebendig die jüdischen Gemeinden hier am See gewesen waren, wie selbstverständlich der Alltag gewesen war, das Zusammenleben von Christen, Juden und Anderen.

Auch die Grenze hat lange Zeit keine Rolle gespielt. Vor 1914, so erinnert sich Erich Bloch, konnte man nach Belieben zwischen Konstanz und der Schweiz hin und her spazieren, es sei denn man hatte etwas zu verzollen und begegnete einem der wenigen Zöllner. Als Kinder spielten sie hüben wie drüben und erkundeten die Gegend, wie sie gerade wollten.  Später aber wurde auch für ihn und seine Familie diese Grenze wichtig und schließlich lebensrettend.

Wenige Monate vor Elsers Verhaftung, im Sommer 1939, konnte Erich Bloch mit seiner Familie die Grenze von Konstanz aus  nach Kreuzlingen passieren. Sie hatten ein Transitvisum und mussten die Schweiz nach spätestens acht Tagen wieder verlassen, so stand es in ihren Pässen. Ich stelle mir vor, wie sie den Ort hinter sich ließen, die Stadt, die Landschaft, die ihr ganzes Leben lang ihr zuhause gewesen war. Wo der Vater seine Anwaltskanzlei betrieben hatte, die Großeltern ein feines Textilwarengeschäft führten, wo sie zur Schule gegangen waren, im See geschwommen, wo sie in den Gassen gespielt und mit dem evangelischen Pfarrer über theologische Fragen diskutiert hatten.

Von hier aus hatte sich Erich Bloch noch als Schüler als Freiwilliger für den Ersten Weltkrieg gemeldet und war hierher verletzt, frühzeitig und als überzeugter Pazifist zurückgekehrt.  Hier hatte er einige Jahre später, zurück vom Studium in Freiburg, beschlossen, nicht Jurist, sondern Landwirt zu werden und mit seiner Frau auf der Höri einen biologisch-dynamischen Hof aufzubauen. Bald waren auf diesem Hof auch zahlreiche sogenannte Umschichtler, auswanderungswillige oder fluchtbereite Juden, die sich in einer landwirtschaftlichen Ausbildung vorbereiteten auf das Leben in Palästina, in Australien, in Brasilien, wohin auch immer ein Weg sich  öffnen würde. Das war der erste Einbruch in die beschauliche und arbeitsintensive Realität.

Es fällt mir schwer, obwohl von Erich Bloch so eindringlich beschrieben,  mir vorzustellen, wie diese Einbrüche sich fortsetzten, wie Bespitzelungen, Verhöre, Hausdurchsuchungen und Straßenkontrollen folgten. Wie aus Mitmenschen schleichend nach und nach Ausgegrenzte, Verfolgte, Gedemütigte, fast zu Tode Geschlagene und schließlich – bestenfalls – Flüchtlinge wurden. Der Familie von Erich Bloch gelang es, in Kreuzlingen über die Grenze zu kommen, um dort – und für einige Zeit auch in Gottlieben – bei helfenden Familien länger als die genehmigten acht Tage auf die Papiere zur Weiterreise zu warten, die ihnen schließlich die Flucht in unterschiedliche rettende Länder  ermöglichten.

Andere mussten nachts über die grüne Grenze, über den Rhein, über den See. Es gab Denunzianten und Aufpasser und Schlepper und Fluchthelferinnen und Fluchthelfer, es gab Frauen, die weiße Schneekleidung nähten, damit die Fliehenden über das Eis bei Kattenhorn ungesehen in die Schweiz gelangen konnten. Es gab Fischer, die die Flüchtlinge übersetzten und Familien, die sie versteckten. Bereits 1939 wurde im See-Rhein bei Konstanz ein stacheldrahtbewehrter Zaun im Wasser errichtet, der sogenannte Judenzaun, der jegliches Entkommen an dieser Stelle verhindern sollte.

Im Februar 2014 lese ich in einer deutschen Wochenzeitung  vom Brief der Rorschacher Mädchen. Vierzehnjährige Schülerinnen einer Rorschacher Sekundarschule haben ihn am 7. September 1942 geschrieben, 22 Mädchen haben ihn unterzeichnet und an die Regierung in Bern geschickt.  Das Ostschweizer  Tagblatt  hatte regelmäßig über  dramatische Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze berichtet, auch von den Vernichtungslagern der Nazis, den Todestransporten, der systematischen Ausrottung der jüdischen  Bevölkerung Deutschlands und aller von den Deutschen besetzten Gebiete.

Die Mädchen waren empört darüber, „dass man“, wie sie schrieben, „ die Flüchtlinge so herzlos wieder in das Elend zurückstösst. Haben nicht alle diese Menschen“, gaben sie zu bedenken,  „noch die ganze Hoffnung auf unser Land gelegt, und was für eine grausame, schreckliche Enttäuschung muss es sein, wieder zurückgestossen zu werden, von wo sie gekommen sind, um dort dem sichern Tod entgegenzugehen….. Es kann ja sein,“ schrieben sie weiter, „ dass Sie den Befehl erhalten haben, keine Juden aufzunehmen, aber der Wille Gottes ist es bestimmt nicht, doch wir haben Ihm mehr zu gehorchen als den Menschen. Wo wir zum Sammeln aufgerufen wurden, taten wir es sehr gerne, für unser Heimatland und haben willig die Freizeit geopfert, deshalb erlauben wir uns für die Aufnahme dieser ärmsten Heimatlosen zu bitten!“

Natürlich wurde ihrer Bitte nicht entsprochen, statt dessen wurden sie in ihre Schranken verwiesen, einzeln verhört, zu Stillschweigen verpflichtet. Ich stelle mir vor, wie sie weiterhin die Schreckensnachrichten verfolgten, hilflos, wütend, wie sie sich dem Vorwurf ausgesetzt sahen, den Brief im Auftrag eines Erwachsenen, eines Lehrers vielleicht, geschrieben zu haben.

Zuvor, am 16. August 1942, waren die Grenzen für Flüchtlinge endgültig geschlossen worden. Auch Menschen, die ein Visum besaßen, durften nicht mehr einreisen. Der Bundesrat von Steiger ließ am 30. August verlauten: „das Rettungsboot Schweiz ist voll.“

Von daher also stammt dieser Satz, das Reden vom vollen Boot. Auch das hatte ich nicht gewusst. „Das Boot ist voll“ ist noch heute der grundlegende Satz der Flüchtlingspolitik der reichen Industrienationen. Die Dramen finden nicht mehr hier, an dieser beschaulichen Bodenseegrenze statt.

Dennoch frage ich mich, jetzt im Frühjahr 2014, was diese Grenze heute bedeutet für diejenigen, die auf der Flucht sind und nicht schon an den Rändern Europas abgefangen wurden.  Bedeutet sie überhaupt etwas? Am See-Ufer zwischen Konstanz und Kreuzlingen hatte ich gesehen, dass die Grenze nur noch markiert ist, es befindet sich hier ein Skulpturgarten, der zum grenzvergessenden Flanieren einlädt. Auf hohen Masten sitzen Überwachungskameras. Wofür? Wo sonst noch sind solche Kameras installiert?

Am Morgen war ich mit dem Zug angekommen, von Stuttgart her über Singen. Wie so oft auf dieser Strecke waren irgendwann nach Rottweil, also noch weit vor den Grenzübergängen, Grenzschützer zugestiegen. Wie so oft gingen sie mit prüfenden Blicken langsam durch die Waggons, verlangten die Papiere von allen, die nicht unauffällig mitteleuropäisch aussehen, von allen anderen selbstverständlich nicht. In Konstanz gibt es Flüchtlingsheime, auch in vielen anderen Bodenseegemeinden, in Kreuzlingen gibt es ein „Empfangszentrum“ genanntes Auffanglager.  Für all ihre Bewohner endet die ohnehin nicht sehr große Bewegungsfreiheit  an dieser Grenze, ohne Ausnahme. Kein Besuch auf der anderen Seite ist möglich, keine Kontaktaufnahme zu Landsleuten oder auch Familienangehörigen, kein Ausflug mit Freunden, kein Flanieren im anderen Teil der Stadt, kein Einkaufen im billigeren Nachbarland.

Die Schweizer machen gerade davon inzwischen gerne regen Gebrauch. Zu meinem großen Erstaunen habe ich dieser Tage gesehen, dass der Kreuzlinger Zoll demonstrativ für den motorisierten Verkehr gesperrt ist. Da, wo vor wenigen Monaten noch die klaffend breite Straße zwischen den Zollgebäuden nur noch daran erinnerte, dass hier einmal Schlagbäume und Barrieren standen, befinden sich nun, dicht hintereinander gestaffelt,  rot-weiße Absperrgitter, schon von Weitem zu sehen. Kurz dachte ich, das sei eine künstlerische Intervention.

Es ist aber, wie mir gesagt wurde, der zunächst nur temporär gedachte, nun aber etablierte Versuch, durch die Schließung dieses einen Übergangs der Verkehrslawinen Herr zu werden, die nach Konstanz einbrechen, weil währungs- und umsatzsteuerrückzahlungs-bedingt Konstanz zu einem attraktiven Einkaufsparadies für die Schweizer wurde.  Auch wurde mir gesagt, dass inzwischen wieder von einer neuen Eiszeit zwischen den beiden Staaten die Rede ist. Vor kurzem erst haben die Schweizer über die Begrenzung der innereuropäischen Freizügigkeit abgestimmt. In der Zeitung lese ich, dass die Schweizer Behörden den Pizza-Service von Konstanz nach Kreuzlingen verboten haben. Die Deutschen, die in Kreuzlingen wohnen, sollen ihre Kinder nicht mehr auf Konstanzer Schulen schicken dürfen. Ein Leserbriefschreiber macht den Vorschlag, die Grenze  zum Rhein hin zu verschieben, dann könnten die Schweizer in der Konstanzer Altstadt ungestört so viel einkaufen, wie sie wollten.

Dabei, denke ich, ist dieser Ausdruck der Eiszeit an dieser Stelle eigentlich vollkommen falsch.

Ich kann mich noch erinnern an das große Eis, die „Seegfrörne“ vor über fünfzig Jahren. Da wanderte man über diesen Dreiländersee ins jeweils andere Land, ohne Kontrollen, ohne Vorbehalt, ohne Einschränkung. Man wanderte oder ritt oder segelte auf Eisschlitten, fuhr mit dem Fahrrad oder gar mit dem Auto.

Man teilte uneingeschränkt die Freude über dieses seltene Naturereignis, tauschte Geschenke aus und Urkunden. Im Rahmen einer feierlichen Prozession wurde die Büste des Heiligen Johannes vom am deutschen Ufer liegenden Hagnau wieder zurück ins schweizerische Münsterlingen getragen, woher man sie bei der letzten Seegfrörni nach Hagnau gebracht hatte, und wo sie nun wieder beherbergt wird bis zur nächsten geschlossenen betretbaren Eisdecke auf dem See.

Man teilte das Pathos des Naturschauspiels, die Sorge um Wanderer, die aufgebrochen waren, bevor der See freigegeben war zum Betreten, teilte die Trauer um die auf dem Eis Erfrorenen oder Eingebrochenen und Ertrunkenen.  Man feierte gemeinsam  Feste, die Fasnachtsumzüge, staunte gleichermaßen über die gigantischen, sich zu bizarren Formationen auftürmenden Eisschollen und über das dröhnende Krachen, als das Eis schließlich, im März 1963, brach. Ich erinnere mich an die Heiterkeit und die Dramatik dieser Wochen und an das Wissen, an etwas ganz Einmaligem und Magischem teilgehabt zu haben. Eiszeit, das könnte also auch Utopie sein, nämlich sich in anderen als in staatlich gedachten Zusammenhängen zu begreifen, weil das Eis an dieser Stelle die Grenzen ad absurdum führt.

Wir sind weit davon entfernt.  Noch immer schaue ich hinaus, aufs still fließende Wasser, auf die Spuren, die die Enten und Haubentaucher und Blesshühner auf ihren Bahnen von einem Ufer ans andere für einen Moment auf der Oberfläche hinterlassen. Betrachte von hier aus  die Landschaft und den weiten Himmel, höre die Vögel drüben im Wollmatinger Ried und wie sich ihr Gesang mischt mit dem der Vögel vor meinem Fenster.

Andrea Zaumseil

  • Text des Hörstücks Unwegbarkeiten
  • Kunstfestival »Hecht an der Grenze« in Gottlieben (Schweiz), 2014