Eröffnungsrede zur Ausstellung VÖGEL/MEER
Einen schönen guten Abend meine Damen und Herren,
vielen Dank zunächst für die einführenden Worte und auch von mir ein sehr herzliches Willkommen zur heutigen Vernissage der Ausstellung „Vögel/Meer“ mit Papierarbeiten der Künstlerin Andrea Zaumseil. Es ist ein ganz besonderes, fast schon surreales Gefühl heute hier vor Ihnen zu stehen. Ich konnte mich durch die coronabedingte Verlegung darauf ja jetzt schon über ein Jahr geistig vorbereiten. Umso schöner, dass die Vorfreude nur aufgeschoben und zum Glück nicht aufgehoben wurde!
Für mich ist es aber noch aus einem weiteren Grund ein besonderer Anlass, denn eines der hier gehängten Meerbilder sehe ich heute nach drei Jahren zum ersten Mal wieder. Damals durfte ich mit Andrea in Reutlingen zusammenarbeiten und gerade ihren Prozess des Zeichnens intensiv kennenlernen, was mich für die Gedanken zu dieser Einführung permanent begleitet hat. Deshalb kann ich Ihnen gleich auch sagen, warum der Begriff Zeichnung für Zaumseils Papierarbeiten eigentlich gar nicht so richtig passt…
Aber zunächst möchte ich auf das eingehen, was wir um uns herum sehen. Zwei Themenfelder tauchen auf: zum einen Wasser- und Meeresbilder, zum anderen Vogel und Federbilder. Inhaltlich haben die beiden auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam, sie bilden sogar eine Art Gegensatz. Zaumseil umschreibt hier zwei ganz unterschiedliche Lebensräume, die dem Menschen wiederum beide verwehrt bleiben. Es sind „unbetretbare Orte“, wie sie selbst formuliert, was ein Gefühl gewisser Distanz heraufbeschwört. Gleichzeitig befinden wir uns aber mittendrin, ohne festen Ankerpunkt oder Standort. Gerade diese spezifische „Standlosigkeit“ spielt eine große Rolle und verbindet beide Werkkomplexe wieder miteinander. Die Spannung aus Nähe und Distanz mag sogar eine latente Unsicherheit auslösen, denn was wir eigentlich sehen und wo wir uns genau befinden bleibt im Bereich des puren Erahnens.
Zaumseils Meerbilder wirken eher wie Fragmente, Ausschnitte einer größeren Landschaft oder mikroskopischen Nahaufnahme. Das Schwingen von Wasser könnte so auch die Bewegung von Gräsern im Wind oder ein glänzendes Tierfell sein. Auch die zum Teil großen Formatunterschiede, von A4 bis 2 Meter Breite zeigen, dass es hier nicht primär um das Dargestellte geht – sondern um das Spiel wechselnder Lichtreflexe und die Wandelbarkeit von Materie. Wasser dient sozusagen als Medium der Übergänge und Prozesse: Es ist bewegt und flüchtig, kann sanft und wild zugleich sein. Die Wahl der Perspektive unterstreicht das unstete Wesen des Meeres, denn wir scheinen wie über der Oberfläche zu schweben.
Obwohl wir Betrachter nur das Endergebnis, also einen festgeschriebenen und statischen Zustand sehen, ist die Dynamik des Zeichnens selbst aber immer noch spürbar. Die eigene Bewegung hat sich dort direkt in die Bewegung des Bildes übertragen und bekommt hierbei auch ein Eigenleben. Zaumseil selbst bezeichnet es als „Wettlauf“, denn das Werdende (also die entstehende Zeichnung) wird zunehmend eigenständig und will mitreden. Es entsteht sozusagen ein Dialog, ein Kräftemessen mit der eigens geschaffenen Bildwirklichkeit, was große Konzentration und auch Schnelligkeit abverlangt. Sich selbst zu überwinden – eigentlich fast schon zu überlisten – ist wohl eine der anspruchsvollsten Fähigkeiten überhaupt.
Der Faktor Zeit ist so gleich auf mehreren Ebenen verankert: im Entstehungsprozess selbst und dem Bild als eigenständige Wirklichkeit. Die Zeitlosigkeit des Meeres trifft dabei auf die Gegenwart des unmittelbaren Augenblicks. Ein Widerspruch aus dem sich die Spannung der Wasserbilder gerade nährt.
Sie orientieren sich zwar an Bekanntem, laden aber vielmehr ein zur Assoziation. Das vermeintliche Erkennen von Strukturen geht hier Hand in Hand mit der haptischen Anziehungskraft des Materials. Es ist schon eine Überwindung, die Finger von den samtig glänzenden Oberflächen zu lassen – zumindest geht es mir so.
Aber keine Angst, wir halten auch hier Abstand!
Licht und Schatten, das bewusste Freilassen und Verdunkeln, aber auch ein aus der Dunkelheit herausarbeiten sind die wesentlichen Elemente. Tatsächlich schwärzt Zaumseil ihre Papiere häufig erst und legt die Strukturen dann mit einem Radiergummi gezielt frei. Dass bewusst keinerlei Farben zum Einsatz kommen unterstützt an dieser Stelle auch die abstrakte Wahrnehmung; wir können uns ganz auf die Wirkung von Kontrasten und Flächen konzentrieren.
Die Wasserbilder strahlen so fast von innen heraus, als würden sie das Licht der Landschaft reflektieren, in die sie uns einen Einblick geben. Das vermeintlich Düstere betont hier also gerade das Lichte. Man könnte demnach von einer gewissen Erhabenheit sprechen – und das obwohl Zaumseils Arbeiten kein Stück auf Pathos ausgelegt sind. Ihre Dramatik bedingt sich allein aus dem Zusammenspiel von Licht und Schatten. Der anfängliche Eindruck von Glanz ist aber ein Trugschluss, denn die Oberflächen sind alle pudrig glatt und komplett matt. Zaumseils Zeichentechnik stellt unsere Wahrnehmung letztlich auf die Probe und sich selbst gleichzeitig in Frage. Denn vom Zeichnen im klassischen, linearen Sinne heben sich die Arbeiten bewusst ab. (Und jetzt komme ich auch darauf zurück, warum das Wort „Zeichnen“ hier eigentlich missverständlich ist). Denn Zaumseils Zeichnungen sind vielmehr von Fläche und Raum bestimmt, haben also eigentlich malerische Eigenschaften. Die schwarze Pastellkreide trägt sie oft sogar mit den bloßen Händen auf und modelliert die Oberflächen des Papiers in gewisser Weise bildhauerisch.
Die Überraschung, wie aus nichts als Schwarz und Weiß etwas Körperliches und Lesbares wird, beschreibt sie dabei als größte Motivation bei ihrem Zeichenprozess. Wie viel von was benötigt das Bewusstsein überhaupt, um zu „erkennen“ und welche Informationen werden ganz intuitiv ergänzt? Über solche Fragen stolpern wir besonders im zweiten Werkkomplex, den Vogelbildern.
Was zunächst auffällt ist, dass sich die Körper der Vögel hier in verschiedenen Zuständen befinden: mal hängend oder stürzend, mal fliegend und mal kauernd bzw. duckend. Wie die Meerbilder sind auch Zaumseils Vögel seriell angelegt und betonen dabei eher einen Prozess als einen Zustand. wobei Bewegung wieder eine große Rolle spielt. Wie das Meer bewegen sich Vögel ja ständig in ihrem Luftraum und sind so in gewisser Weise rastlos – oder „flüchtig“ im wahrsten Sinne des Wortes. Das setzt sich fort in ihrem Dasein als Vermittler: sie verkörpern sozusagen den Grenzbereich von Himmel zu Erde und sind für uns Menschen dabei so gewöhnlich wie geheimnisvoll.
Auch Zaumseils Vögel konfrontieren uns mit bekannten Formen, tragen aber gleichzeitig etwas Undefiniertes und Mystisches in sich. Manche der Vögel hängen über Kopf, scheinen zu stürzen oder zu fallen. Sie lassen aber keinen Rückschluss darauf zu, wo sie herkommen oder wo ihr Endpunkt sein wird. Sind sie erstarrt oder vielleicht auch tot? Es bleibt offen. Die Gestalt des Vogels gibt auch hier vielmehr Anlass für Struktur. Die runden Körper schieben sich plastisch aus der Dunkelheit hervor und lösen sich gleichzeitig in ihr wieder auf. Ein Spitz nach unten gerichteter Schnäbel betont die Schwere der Vogelkörper sogar noch zusätzlich. Die monumentale Darstellungen der eigentlich kleinen Wesen steht einer „vogel-gemäßen“ Leichtigkeit deutlich entgegen und drängt uns den Vergleich zum menschlichen Körper fast schon unweigerlich auf. Es ist wohl kein Zufall, dass uns das hochformatige Blatt dort am Eingang sogar wie eine Art Spiegel gegenübersteht. Die Gestalt des Vogels wird also auch zu= einem Vermittler zwischen Mensch und Tier. Auf dieser Ebene des Mehrdeutigen lotet Zaumseil besonders das intuitive Gedächtnis aus. Denn wir sehen sofort einen Vogel, ohne seine spezifische Anatomie wirklich zu kennen.
Dem überlebensgroßen fallenden Vogelpaar stehen hier zwei Bahnen mit noch riesigeren Federn entgegen, wobei gerade ihre Leichtigkeit betont wird. Auch sie scheinen zu fallen oder vielmehr langsam Richtung Boden zu gleiten. Wo sich dieser Boden befinden könnte bleibt aber wieder im Bereich der Spekulation. Es ist auch eigentlich gar nicht wichtig wohin sie fallen – ihre Körperlichkeit steht im Zentrum. Die dynamisch geschwungenen Federstrukturen stechen aus der gleichmäßigen Dunkelheit heraus und ringen so förmlich um Aufmerksamkeit. Jede Feder hat ihren ganz eigenen Charakter, mal sanft und gleichmäßig, mal wild und zerzaust, was in gewisser Weise zurück an die Meerbilder erinnert. Beides Mal sehen wir das Viele im Gleichen – und wie das Wogen der Wellen ist auch das Schweben der Federn geradezu schwerelos.
Um Bewegung bzw. Geschwindigkeit geht es auch im nächsten Komplex, den fliegenden Vögeln. Im Vergleich zu den stürzenden Exemplaren ist die Aufmerksamkeit hier ganz auf das Flügelschwingen gelegt. Die Lichtbrechung auf den Federn lässt sie förmlich strahlen, wobei die Körper selbst fast im Schwarz des Umraums verschwinden. Welcher Lebensraum sie umgibt bleibt lediglich zu erahnen. Nur mithilfe von Licht und Schatten entstehen schemenhafte Umrisse, die auch an unscharfe Schnappschüsse denken lassen. Hier kommen Zaumseils Vogelgestalten der Schwelle zur Abstraktion wohl am nähesten.
Und doch wirken die einzelnen Flugphasen wie eine Art Daumenkino. Gleichzeitig ergeben die Fragmente aber keinen realen Vogelflug, würde man sie tatsächlich hintereinander setzen. Aufs neue ist unsere Wahrnehmung herausgefordert und wird durch ihr intuitives Wissen sozusagen „geködert“. Man könnte sagen, wir unterziehen uns einer Art Forschungsreihe, wobei das Sehen selbst zum Testobjekt wird. Es geht hier eben nicht um ein finales Erkennen, sondern um ein Sehen mit unbedarften, unvoreingenommenen Augen. Zu gerne „über-sehen“ wird doch die komplexe Spannung des Alltäglichen, weil wir verlernt haben, unsere Umwelt tatsächlich wahrzunehmen. Und das ist es, was wir in Andrea Zaumseils Bildern wieder erlernen und vor allem genießen können.
Ihre Vögel sind also im doppelten Sinne Vermittler – als Tiersymbol und in ihrer Funktion, unsere Wahrnehmung auf sich selbst zurückzulenken. Gleichzeitig vermitteln sie sogar zwischen den hier gezeigten Werkblöcken. Denn gerade das serielle Wiederholen erinnert auch an die besondere Ästhetik von Vogelschwärmen: und wo sich einzelne Körper zu einer wogenden Masse fügen, ist die Verbindung zum Element des Meeres auch wieder nicht weit. Dabei ist es letztlich egal, ob „Vögel oder Meer“, es geht um die gleiche Kraft in ihrem Dasein. Neben maximaler Bewegung im Flug haben wir abschließend noch die große Gruppe der kauernden, duckenden Vögel. Sie sind scheinbar zur Ruhe gekommen, lösen aber doch eine gewisse Unruhe aus. Ihre schwarzen Körper lassen vom Federkleid kaum noch etwas erkennen. Kopf und Körper verschmelzen zu einer dunklen Masse, in der nur die hellere Stelle des Schnabels überhaupt noch einen Vogel definiert. Man könnte kaum weiter entfernt sein vom Abbild eines putzigen Vögelchens. Aber „schön“ wollen Zaumseils Vögel eben auch nicht sein. Sie erzeugen in ihrer Einfachheit vielmehr eine bezwingende Eindringlichkeit. Wie neugierige Spiegelbilder treten sie uns direkt entgegen.
Sie sitzen stumm und sprechen zu uns doch ganz laut. Dabei schauen sie einfach. Ihre Augen sehen wir aber kaum. Und dennoch fühlt man sich beobachtet. Sie haben eine fast schon gespenstische Anziehungskraft, die bei mir ein besonders angenehmes Unbehagen auslöst. Was wir erkennen ist auf ein Minimum reduziert und doch hat jeder Vogel eine ganz deutliche Körpersprache und Mimik. Auch hier lotet Zaumseil aus, wie viel es von was bedarf, um einen Ausdruck zu erzeugen – und was jeder von uns intuitiv beisteuert, insofern wir uns darauf einlassen.
Zum Abschluss möchte ich Ihnen jetzt noch einen Satz mitgeben, den die Künstlerin Gabriele Straub einmal zu mir sagte und an den ich hier sofort denken musste: „So wenig wie möglich, aber so viel wie nötig“. Und dieses Maß zu finden ist eben eine Kunst. Und nun wünsche ich Ihnen viel Freude beim Schauen und bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit!