Territorien

„Die Erde, die wir jetzt von außen sehen können. Da hängt sie. Da wohne ich.“
Inger Christensen

Es gibt eine umfangreiche Sammlung von schwarz-weiß Fotografien vom Mars, sie sind von betörender Schönheit, Ergebnisse systematischer Erfassung, sachlicher Bestandaufnahme zum Zwecke der Wissenschaft.

Beim Spaziergang durch einen winterlichen Wald sah ich im Licht der tief stehenden Sonne plötzlich ähnliche Landschaften, ähnliche Furchen, Erhebungen, Schlagschatten, Gebirgszüge, Täler, Schluchten. Ich entdeckte in den von Schlaglicht getroffenen Oberflächen der Baumstämme die Landschaften vom Mars wieder, in den Schrunden, Aufplatzungen, Vernarbungen. Selbst Krater und Spuren vermeintlicher Einschläge ließen sich finden. Ich verlor mich darin, kehrte mit der Kamera zurück, ging mit ihr sehr nah ran und war sogleich sehr weit fort. Die gesehenen Bilder tauchten wieder auf an meinem Zeichentisch, zusammen mit dem Gedanken, wie sehr diese Bilder des Gewordenen den Bildern des Gemachten und Verursachten (Angerichteten) gleichen, die unaufhörlich auf uns einstürzen.

Das Territorium ist beanspruchter Raum. In fast all meinen Zeichnungen ist er unbewohnt, oft unzugänglich. Warum das so ist, bleibt offen. Aber ich stelle mir die von mir geschaffenen, erfundenen, erdachten Räume immer in Bezug auf jemanden vor. Durch die Festlegung eines Standpunktes wird das Verhältnis benannt, in dem sich dieser Jemand (als Beobachter) zu dem Raum befinden könnte. Aber ich stelle mir auch weitere Protagonisten vor. Die anwesend oder abwesend waren innerhalb des Bildraums, als Akteure oder stumme Zeugen. Wer löste was aus? Wo kommen die Verwerfungen her, die Aufbrüche, die geballten Rauchgebilde? Und wer betrachtet sie? Welcher Blick fällt auf sie und wann und aus welcher Position?

Das Zeichenpapier ist zunächst weiß, langsam arbeite ich mich zeichnend vor in diese weiße Leere. Inger Christensen schreibt (in Bezug auf das Verfassen von Gedichten): „Zuinnerst weiß man, dass der Anfang eine Brücke ist, die vorher schon gebaut ist, aber erst, wenn man in den leeren Raum hinausgeht, kann man die Brücke unter den Füßen spüren“.

Auch in der Bildhauerwerkstatt gehe ich so vor, baue Stück um Stück in eine nur vage gewusste Form hinein, in den noch leeren, zu besetzenden Raum, wobei es hier die Dinge selbst sind, die zum Gegenstand meiner Überlegungen werden. So dinghaft sie sind, stehen sie aber doch auch in enger Verbindung zu landschaftlichen Elementen, Strudeln, Schluchten, Einschnitten, kristallinen Formen, Erhebungen. Als Plastiken besetzen sie Raum oder stecken ihn ab, die Perlen der zerrissenen Perlenkette liegen verstreut über viele Quadratkilometer.

In jüngster Zeit gehe ich beim Zeichnen einen anderen Weg. Das weiße Papier wird ganz und gar geschwärzt. Manchmal ist es auch nicht weißes Papier, sondern bereits bearbeitetes, ich nehme begonnene Bilder oder verworfene oder solche, die obsolet geworden sind. Aus diesem Schwarz arbeite ich mich dann radierend in eine Art Helligkeit hinein, aus dem Ausgelöschten, das oftmals dann wieder durchscheint, entsteht eine neue Struktur, ein neuer Raum, eine neue Dynamik. Das Territorium wird neu besetzt. Bei den schwarzen Wolkenbildern bleibt das Moment der Auslöschung den Bildern immanent, das ist so gemeint, und auch das Schwarz ist hier gemeint und nicht, wie sonst, eine Abstraktion.

 

  • Andrea Zaumseil in: Territorien
  • Publikation zum Hans-Thoma-Preis 2015
  • Kerber Verlag