Oszillierend – Zeichnungen bei Andrea Zaumseil

„Wenn man sich keiner Sache ganz sicher ist, ist es das Beste, sich Aufgaben zu stellen.“1

Die Rinde von Bäumen, Fasrig-Organisches, geologische Faltungen, Riffelungen, Wolkenhaufen, Rauch, Krater, architektonische Raster, auch das Gesicht der Mutter in verblüffender Präzision, nicht voyeuristisch, sondern aus einer eindrücklich sachlichen Nähe anteilnehmend, wie an einem anderen Leben. Es sind vielleicht Zeichnungen, es sind – kategorial gesehen – Arbeiten auf Papier; und doch eher Membranen, im Spiel mit der diffundierenden Unübersichtlichkeit des alltäglich Erfahrbaren und zu Erfahrenden und dem Moment, die Wirklichkeit in der malerisch-zeichnerischen Vergegenwärtigung der Erinnerung auszuliefern, in der sich bei aller Dramatik meditative Anmutung findet.

Papier als Material erscheint als haptischer Fond in der feinen Lineatur der Klebekanten der einzelnen Bögen, als Quelle für das Bildinnenlicht in den oft monumentalen Werken. Licht und Schatten verführen zu einem eigenen Tiefenraum im und als Bildgeviert, das Gesehenes – der Farbe entledigt – als Erinnertes versachlicht. Dafür setzt Andrea Zaumseil ausschließlich und radikal samtschwarze Pastellkreide ein, um in nuancenreicher Vielfalt die Bildstruktur zu entfalten, erfasst oft eher malend als zeichnend auch Flüchtiges wie im Übergang begriffen. Grundsätzlich überspinnt das aus gefundenen und eigenen Fotografien extrahierte Bildmotiv die gesamte Fläche, legt in mal mehr, mal weniger differenziertem Rapport potenziell Grenzenloses, nicht Fassbares, Unendlichkeit nahe. Zaumseils Zeichnungen oszillieren zwischen Gesehenem und Erinnertem, gehen in den Motiventscheidungen Fragen nach, die sich als Sedimente der Erfahrung bis in die Kindheit erweisen wollen. Dabei bieten sie ein Moment des Schwebens, des kontinuierlichen Flusses des Bewusstseins, weisen zugleich einen Halt auf, dem man Dauer, Klarheit, Klärung, Aufklärung – und im Augenblick der Entstehung wie der Betrachtung – Glück abgewinnen kann.

In den Bildern und durch die Bilder findet eine Art Versicherung statt. Das Bild ist Bild, durch Materialität und Faktur nie reine Illusion, nie als Trompe-l’Œil entwickelt, aber auch nie ohne Referenz zur Erfahrungswirklichkeit, es ist eigenständig, abstrahiert und in der Motivik bezogen auf den Raum das unbestimmt Bestimmbare. Oberfläche und Tiefenraum, das Konkrete und das Unwägbare sind zusammengeführt. Es ist der unverdrossene und entschiedene Versuch, sich des nicht wirklich Greifbaren und Belebbaren bildlich zu vergewissern, im bloßen Tun, mit handwerklichem Vermögen und ungebrochener Neugierde auf die Ereignisse im und als Bild, gebunden an Prüfung und Zweifel; und immer wieder das Moment der Klarheit in der Anschauung eingeschlossen. Das Bild in seiner Gegenwart spielt durch Eigenlicht und Eigenräumlichkeit in eigener Zeit und eigener Ordnung, die die Ordnung des Betrachters sein möchte, in der er sich bewegt, in der er sich gebunden und aufgehoben wissen kann. „Die Zeit des Bildes ist immer Jetzt“, schreibt Andrea Zaumseil. 2

„Schließlich stand Dédée auf und schaltete das Licht aus. Bei dem, das uns blieb, einer Mischung aus Grau und Schwarz, sahen wir uns besser.“3

 

1) Julio Cortázar, Der Verfolger, München 2004, S. 29.
2) Andrea Zaumseil, „Notizen über das Zeichnen“, in: Unbetretbare Orte, Zeichnungen, Fundstücke, Texte, Ausst.-Kat. Städtisches Kunstmuseum Singen, Freiburg 2014, o. S.
3) Julio Cortázar, Der Verfolger, München 2004, S. 8.

  • Dirk Teuber in: Territorien
  • Publikation zum Hans-Thoma-Preis 2015
  • Kerber Verlag