Notizen über das Zeichnen

Landschaft, Raum, Wasser, Wolken, Verortung, Zwischenraum, Leere: auf den ersten Blick sind das die Ausgangspunkte der meisten meiner Zeichnungen.

Aufgewachsen bin ich am Bodensee. Geprägt hat mich das ewige, jeden Tag andere und jeden Tag neue Schauspiel von wechselndem Licht, von Schatten, Farben, Tiefen, Bewegtheit, Wildheit, Sanftheit, Stille, von Spiegelungen, Lockung, Abweisung, Bedrohung, Klarheit, Abgrund. Der See war und ist dieses allumfassende Gegenüber, Grenze, Ufer, Diesseits und Jenseits, die Alpen manchmal zum Greifen nah und dann wieder verschwunden. Selbst an sonnigen Tagen blieben sie vom leichtesten Dunst verschluckt. Aber wenn sie da waren, nah rückten, sich zwischen den freien Blick schoben, dann war ihr Anblick auch immer wieder Sensation, die sich nie erschöpfte.  Dahinter lagen unbekannte Räume, lagen Imagination, Verheißung, Traum.

Heute ziehe ich es vor, in den Städten zu leben. Sie mag ich wegen ihres kulturellen Reichtums, wegen ihrer Brüchigkeit, ihren Widersprüchen und  Zumutungen,  des Aufeinandertreffens unterschiedlichster Welten, der Konfrontation mit dem Fremden, den Herausforderungen gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Der Widerhall, der durch diese Impulse in mir ausgelöst wird, verbildlicht sich allerdings zumeist in  Stellvertretern aus der Natur.

Ingeborg Bachmann schrieb  „Die Jugendjahre sind, ohne dass ein Schriftsteller es anfangs weiß, sein wirkliches Kapital. (….)Was später dazu kommt, was man für viel interessanter hält, bringt seltsamerweise fast nichts ein. Nur dass man erst in späteren Jahren überhaupt zu begreifen anfängt, was man mit dem ersten Blick gesehen hat (….).“Und Albert Camus „Ich  weiß doch wenigstens eines mit unumstößlicher Gewissheit, dass nämlich ein Menschenwerk nichts anderes ist als ein langes Unterwegssein, um auf dem Umweg über die Kunst die zwei oder drei einfachen großen Bilder wieder zu finden, denen sich das Herz ein erstes Mal erschlossen hat.“

Das Zeichnen ist jedes Mal aufs Neue ein Abenteuer,  mit jeder inhaltlichen Neusetzung oder Abweichung ist noch ganz unklar, ob der Schritt von der banalen Materialität von Papier und Kreide in die Erzeugung einer Bildwirklichkeit gelingt. So einfach das klingen mag: das ist eine der stärksten Motivationen, mich da immer wieder aufs Neue hinein zu begeben, die Überraschung und das Glück (und „Glück“ hier durchaus im doppelten Sinn) zu erleben, wie aus dem Schwarz und dem Weiß und aus  nichts sonst etwas Greifbares, Lesbares, als Bild Sprechendes entsteht. Dass daraus Raum, Materialität, Licht, Körperlichkeit, Stofflichkeit, Wesenhaftes oder Dinghaftes, je nach dem, erwachsen kann.

Am Beispiel der Landschaften, die immer wieder Thema sind in meiner Arbeit, kann ich etwas erzählen über den Prozess des Zeichnens.

Meine unbetretbaren Orte.

Die Absicht und die Strategie sind klar:

Der Standpunkt ist außerhalb der gezeigten Welt, für uns gibt es darin weder Boden noch Halt, sie ist ein nicht betretbares DORT und doch ganz nah. Was nicht klar ist, ist,  wie dieser Raum im Einzelnen auszusehen hat. Ich orientiere mich an Bekanntem: Steine, Berge, Licht, Schatten, Reflektionen.

Sobald ich begonnen habe zu zeichnen, beginnt eine Art Wettlauf. Das was entsteht, beginnt sogleich mitreden zu wollen und obwohl mir die Erfahrung zuflüstert: HÜTE DICH VOR DEN SCHÖNEN STELLEN sind es vor allem die, die gerne das Diktat übernehmen wollen. Zufällig ist ein besonders magischer Lichtschein gelungen, eine besonders spannungsreiche Bergkonstellation, ein Lichtreflex, eine rätselhafte Unebenheit. Oft ist es wichtig einfach weiter zu machen, sich gar nicht erst beeindrucken zu lassen vom Bild (das man ja selbst geschaffen hat), das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Besonders vertrackt wird es, wenn ich das begonnene, aber schon weit fortgeschrittene Bild zu lange alleine lasse. Es ist, als gewänne es dann vollends die Übermacht, als manifestierte es sich in meiner Abwesenheit, verpanzere sich gegen Eingriffe, mache sie  unmöglich, weil es sich in der Zwischenzeit an sich selbst gewöhnt hat und einen Behauptungswillen herausgebildet, gegen den ich dann nicht mehr ankomme. Es ist, als müsste ich das Bild durch Geschwindigkeit  und einer aus dem Augenblick heraus geborenen Entschiedenheit überlisten.  Muss mich seinem Eigensinn widersetzen. Das Beunruhigende daran ist, dass das, was ich beim Machen darin sehe, von außen oft kaum nachvollziehbar ist, man spinnt sich ein in eine Welt von Autosuggestion, so dass es also gleichzeitig (zum mittendrin sein im Bildprozess) auch unabdingbar ist, zurückzutreten und immer wieder auf den möglichst unbefangenen Blick umzustellen.

Dieser Blick ist im Wechsel scharf und unscharf, um Objektivität bemüht und trotzdem auch immer ein bisschen neben der Spur.

Der Standort spielt auch bei thematisch anderen Zeichnungsserien eine wesentliche Rolle.

Die frühen Seestücke, die Krater- und Architekturbilder sind Draufsichten. Man  befindet man sich über der Situation, schwebend, fliegend, fallend.  Allmählich aber habe ich den Standpunkt verändert: Versuch, eine Innenperspektive zu finden, man befindet sich innerhalb der räumlichen Strukturen, schaut in Gebälk empor oder aus Löchern oder Schächten heraus, scheint umgeben von Wänden.

Auch bei den Seestücken habe ich den Standpunkt verlegt. Allerdings trifft hier dieser Begriff nicht wirklich. Oder noch weniger als bei den Draufsichten, bei denen ja auch schon klar war, dass der feste Boden unter den Füssen fehlt.

Man selbst ist in den Wellen, die sich vor einem auftürmen, auf einen zurollen oder einen gleich verschlingen. Der Standpunkt ist also kein fester Ort, so wie das Dargestellte nichts Festes ist, sondern Bewegung. Annäherung an die Materialität von Wasser, die Bewegung von Wasser. Es gibt keine wirkliche Anschauung davon, denn alles so Erlebte ist der Flüchtigkeit eines kurzen Augenblicks unterworfen. Das angehaltene Bild ist aus der Erfahrung heraus nicht erinnerbar.

Das Phänomen der Zeit spielt also eine wesentliche Rolle neben dem des Ortes und zwar in doppelter Weise. Zum einen gibt es die Zeitlinie der bildimmanenten Erzählung, die genau an diesem Punkt angehalten ist.  Zum anderen  manifestiert sich das Phänomen der Zeit auf sehr eigentümliche Weise in Bildern überhaupt, seien sie zwei- oder dreidimensional.

Die Zeit des Bildes ist immer JETZT, egal wie stark der Prozess, der zu ihm führte, in ihm abzulesen ist. Egal auch, wie stark das Bild die Spuren seiner bildimmanenten  Erzählung trägt, welche genau zu diesem Punkt seines jetzigen Zustands  führen.

„…Bild“, schreibt Walter Benjamin im Passagenwerk,  „ ist  dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand.“

In der Gemäldegalerie in  Berlin hängt Caravaggios Ungläubiger Thomas. Die Betrachter davor werden Teil des Bildes, weil auch sie auf die Wunde starren, auf den Finger, die am Handgelenk geführte Hand. Thomas schaut am Geschehen vorbei, sinnierend, abwesend, zweifelnd? Es ist, als würde er durch dieses am eigentlichen Geschehen Vorbeischauen das Bild nicht abschließen, die Szene öffnen in den Raum und uns Teil werden lassen von einem abgeschlossenen und doch immerwährenden Augenblick.

Wo ist dieser Augenblick angesiedelt? Der Malprozess ist lang und zwischen Maler und Modellen entwickelt sich eine eigene Geschichte. Die Jetztzeit des Malens ist fließende Zeit, ist wechselhafte Zeit, wechselhaft Licht und Luftzug und Gefühle und Befinden (der Schmerz des Stillhaltens bei den Modellen! Das Hoffen und Ringen und Scheitern des Malers!). Das Bild ist nicht ein Augenblick in diesem Prozess. Der Augenblick des Bildes ist unabhängig von den Augenblicken seiner Entstehung. Und doch steuert alles Tun auf das Bild hin. Ist das Bild Verdichtung aus diesem Tun?

In Palermo hängt eine Verkündigungsmadonna von Antonello da Messina, sie blickt aus dem Bild heraus, auch ihre Hand verweist nach Außen, ertastet sich den Weg Richtung Betrachter, der zwangsläufig die Position des Verkündigungsengels einnimmt. Nicht zuletzt um dieses Bildes Willen wollte ich nach Sizilien fahren. Als ich es sah, war es überraschend klein, überraschend blau und absolut magisch.

Auch dieses Bild unterliegt dieser merkwürdigen Spaltung. Die Disziplin und Genauigkeit, mit der es gemalt wurde, hat nichts zu tun mit der Unruhe und Verwirrung, die es auslöst.

Das heißt, dass so wie der Augenblick des Bildes unabhängig ist von den Augenblicken seiner Entstehung, das, was es auslöst unabhängig ist von den Zuständen, in denen es geschaffen wurde. Das heißt auch, dass der Entstehungsprozess nicht identisch ist mit dem, was das Bild ausmacht.

Und doch bleibt immer ein Rest von Identität, da der Prozess des Machens spürbar bleibt, den Charakter des Bildes prägt.

  • Andrea Zaumseil in: Unbetretbare Orte 2013 
  • Städtisches Kunstmuseum Singen
  • modo verlag