Ein verzerrtes Bild des Himmels – Die zerrissene Perlenkette von Andrea Zaumseil

Ausgehend vom dunklen Dickicht eines Waldrandes, über eine lichte Hangwiese hinab zu einer kleinen landwirtschaftlichen Straße bei Brachenreuthe, unweit von Überlingen am Bodensee, liegen in unregelmäßigen Abständen verstreut sieben große, silberfarbene Kugeln. Auf der anderen Seite des Waldes befindet sich eine weitere Kugel, eine neunte in fünfzehn Kilometer Entfernung. Mittig durchbohrt und mit einem Durchmesser von 90 bis 150 Zentimeter sind diese Kugeln teilweise auf ein gerissenes Stahlseil gefädelt und bilden ein Ensemble, das sich dinghaft gesehen als die Glieder einer zerrissenen Perlenkette beschreiben lässt. Andrea Zaumseil markiert und gestaltet so die Gedenkstätte für die Opfer eines der tragischsten Unglücke in der Geschichte der europäischen Luftfahrt, bei dem am 1. Juli 2002 durch den Zusammenstoß eines russischen Personenflugzeugs und einer italienischen Frachtmaschine 71 Menschen zu Tode kamen, darunter 49 Kinder aus Baschkortostan.

Die einzelnen Perlen aus gebürstetem Edelstahl reflektieren die sie umgebende Landschaft und eröffnen einen ungewohnten Blick auf den Himmel, der sich durch die gewölbten Oberflächen wie in einem Zerrspiegel zu zerdehnen scheint. Der Blick nach unten öffnet jenen nach oben und verkehrt die vertraute Perspektive, während das durch die Oberflächenform der Kugeln erzeugte Panorama wie ein verzeichnetes Abbild wirkt, ganz so, als würde der Betrachter auf dem Boden liegend durch eine Fischaugenlinse in den Himmel schauen. In einer Art Rollentausch wird der letzte Blick der Absturzopfer als beklemmendes Sinnbild erfahrbar: einzelne Stücke Himmel, auf die Erde gestürzt. Ein Moment der Identifikation mit den Opfern verwischt die Grenzen nahezu bis zur Unkenntlichkeit.

Der Himmel als Symbol für den Sitz des Göttlichen, verbunden mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod im Paradies, wird in Andrea Zaumseils Skulptur durch die Umkehrung von oben und unten und nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Flugzeugunglücks ins Gegenteil verkehrt. Zugleich weckt das Motiv des Himmels Assoziationen an religiöse Erlösungsvorstellungen. So erinnert die gewölbte Form des Gespiegelten an barocke Deckenfresken in Kuppelbauten, die mit illusionistischen Maltechniken die Darstellung eines himmlischen Jenseits zu verbildlichen suchen. Doch an die Stelle der Illusion eines göttlichen Himmels auf Erden tritt das verschwommen kühle Erinnerungsbild einer harten Oberfläche. Und so stellt sich zwangsläufig die Frage, ob angesichts des Unglücks, der tiefen Trauer und des Schmerzes der Hinterbliebenen das Sichtbare doch nur eine kalte Reflektion des Vorhandenen ist. Und kein Versprechen in sich birgt.

Die zerrissene Perlenkette erscheint nicht nur als Sinnbild für den gerissenen Lebensfaden, sie mag auch für eine gerissene muslimische Gebetskette oder einen Rosenkranz stehen. Jede einzelne Perle bildet eine in sich geschlossene Welt ab, steht vielleicht für einen einzelnen Menschen, für ein Stück Himmel, ein Stück Erde, einen kleinen Kosmos. Und erzählt so wie ein gedehnter Spiegel auch vom Leben.

  • Johannes Honeck in: Territorien
  • Publikation zum Hans-Thoma-Preis 2015
  • Kerber Verlag