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Die zerrissene Perlenkette

In der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 2002 stießen im Luftraum nördlich des Bodensees nahe Überlingen zwei  Flugzeuge zusammen. Die aus Ufa in Baschkortostan kommende Maschine mit 49 Kindern und 20 Erwachsenen an Bord zerschellte unweit von Brachenreuthe, die aus Italien kommende Frachtmaschine, besetzt mit zwei Piloten, stürzte etwa 15 km weiter im Hinterland bei Taisersdorf ab. Flugzeugteile und Leichen, Kleider, Koffer und persönliche Gegenstände fanden sich in weitem Umkreis. Am Boden kam niemand und nichts zu nennenswertem Schaden.

So nüchtern und sachlich kann man das im Nachhinein aufschreiben, aber es blieb und bleibt die Verstörung, der Schmerz, der Schrecken, die Ratlosigkeit, die Trauer, bei den Angehörigen die Untröstlichkeit.

Im Frühling 2003 beschlossen das Land Baden-Württemberg und die Stadt Überlingen – auf Anregung und Wunsch der betroffenen Familien und der Regierung in Baschkortostan – am Waldrand von Brachenreuthe einen Gedenkort zu schaffen. Als ich gefragt wurde, ob ich mich nicht an dem offen ausgeschriebenen Wettbewerb beteiligen wolle, erschien mir das spontan erst einmal seltsam, ich wollte nicht den schicksalhaften Absturz manifestieren, aus dem Unglücksort einen Wallfahrtsort machen, eine Attraktion. Aber genauso spontan drängte sich mir das Bild der zerrissenen Perlenkette auf, kein Monument stand mir vor Augen, sondern ein Gleichnis, das dann, beim gar nicht mehr zu vermeidenden Nachdenken darüber, in meinem Kopf immer mehr Gestalt annahm und schließlich dann doch in einem Wettbewerbsbeitrag mündete.

Seit Mai 2004 liegt sie nun am Waldrand von Brachenreuthe, die zerrissene Perlenkette, in Erinnerung an das jähe Reißen des Lebensfadens der Opfer. Sie liegt zum Teil im Dunkel einer Waldschneise, zum Teil außerhalb des Waldes. Manche Perlen haben sich bereits vom Faden gelöst, liegen auf abschüssigem Gelände. Sie hätten weiterrollen können, in Richtung der nahe gelegenen Stadt, sie sind nur durch Zufall zum Stillstand gekommen.

Zwei weitere Perlen liegen an anderer Stelle: eine auf der anderen Seite des Waldes, in einem Gebiet, in dem weitere Opfer gefunden worden waren und in dem sich lange Zeit nach dem Unglück noch kleine private Gedenkflecken mit Kreuzen, Blumen, Spielzeug, Fotos versteckten, eine weitere 15 km weiter nördlich bei Taisersdorf, wo die aus Bergamo kommende Frachtmaschine zerschellte und  beide Piloten zu Tode kamen. Auch diese Perle liegt auf abschüssigen Gelände, hätte weiterrollen können in Richtung des Dorfes, dessen Bewohnerinnen und Bewohner bis heute an dem selben Hang einen kleinen, versteckten Gedenkort pflegen, in Erinnerung an die Piloten, von denen sie glauben, dass sie die Maschine an dieser Stelle zum jähen Absturz gebracht haben, um eine Bruchlandung in bewohntem Gebiet zu vermeiden.

Drei Perlen sollten schließlich ihren Platz in Ufa finden, aber dazu ist es nie gekommen. Im Februar 2004 bin ich nach Ufa gereist, um die Möglichkeiten der Realisierung dieser Idee zu klären, nachdem uns von Seiten der baschkortischen Regierung großes Interesse daran signalisiert worden war. Aber zu widersprüchlich waren die Wünsche und Erwartungen der Angehörigen, zu unterschiedlich ihr jeweiliger Umgang mit der Trauer, zu kryptisch die politischen Wege, die ich hätte gehen müssen. Anselm Weidner, der mich nach Ufa begleitet hat, hat ein Radiofeature über die Perlenkette geschrieben, in dem diese denkwürdige Reise einen breiten Raum einnimmt. (zu hören unter: www.anselm-weidner.de)

  • »Die zerrissene Perlenkette« 2004, Edelstahl, neunteilig, Ø 90 -150 cm
  • Hergestellt in Zusammenarbeit mit der Schlosserei Komet Urbach
  • Fotos: 1-3 Tilman Graner, 4-5 Andrea Zaumseil