Die Zeichnung – ein unbewohnbarer Ort

von Volker Adolphs

Die Zeichnung ist zuerst eine Fläche, sie eignet sich das Papier als ihren Träger an. Die grafische Markierung auf dem Papier hat keine räumliche Ausdehnung als Körper, sie kann Körper und Raum nur vorstellen. Es gibt verschiedene Erscheinungsformen des Räumlichen in der Zeichnung. Die Wahrnehmung verwandelt bereits eine einzelne Linie auf einem weißen Blatt in eine Figur-Grund-Beziehung, ein Vorne und Hinten, ein scheinbares Schweben in unbestimmter Tiefe. Vermittelt sich das Räumliche in dieser Interaktion von Linie und Papier als visuelle Wirkung des Papiers, so kann die Zeichnung auch Raum erzeugen durch die zeichnerische Illusion der Welt, eine Erzählung, die das Papier bloß als materielle Bedingung benutzt.

Gerade für die Zeichnungen von Andrea Zaumseil ist eine genaue Benennung der Qualität des Räumlichen wesentlich, weil sie von der Qualität des Räumlichen in ihren Skulpturen nicht zu trennen ist. Skulptur und Zeichnung stehen bei Zaumseil in einer engen Beziehung, und zwar so, dass sie das Zeichnerische vom Skulpturalen und vom Raum her denkt, das Skulpturale aber nie Eigenschaften des Zeichnerischen, des Linearen annimmt. Wenn sich Zaumseil zuerst als Bildhauerin bezeichnet, dann werden ihre Zeichnungen damit keineswegs auf eine bloß nachgeordnete oder auch vorbereitende Funktion reduziert. Sie haben ihre eigenen Möglichkeiten und Probleme. Das wird besonders in der Differenzierung des Raumbegriffs deutlich. Der Raum der Skulptur ist einer der Begrenzung, der Raum der Zeichnung einer der Öffnung. Zaumseils Skulpturen sind ruhende, nach außen klar abgeschlossene, massive, tatsächlich greifbare Volumina im Raum, die so den sie umgebenden Raum definieren, ihre Zeichnungen eröffnen Erfahrungen des Unbestimmten und Diffusen, sind Bewegungen über die Grenzen des Papiers hinaus. Die Wirklichkeit der Skulptur ist getrennt von der Wirklichkeit des Raums, die Zeichnung erzeugt ständig Übergänge zwischen verschiedenen Realitäten, indem sie sich allein in der Realität, d.h. im Raum der Zeichnung bewegt. Die Skulptur benennt einen Ort und ist am Ort, den der Betrachter teilen kann, in diesem Sinn der Teilhabe ist die Zeichnung ortlos, sie erfindet nur dem Sehen erreichbare Orte.

Ordnet man die Linie der Zeichnung und die Fläche der Malerei als Grundeigenschaften zu, dann gehen die Zeichnungen von Andrea Zaumseil über diese Kategorisierung hinaus, sie halten sich in einem Zwischenraum zum Malerischen und Plastischen auf. Jedenfalls zieht Zaumseil keine Linien, sondern benutzt Pastellkreide, die sie oft quer, mit der breiten Seite, damit flächig einsetzt. So erzeugt sie aus dem Weißen des Papiers in Dunkelheiten wandernd samtene und körnige Felder, die sich aus der Flachheit des Papiers herauswölben, Körper, die weich ineinander überwechseln oder kantig enden. Alles dies sind Freiheiten der Zeichnung, die Freiheit, mit unaufwendigeren Mitteln und in kürzerer Zeit als die Skulptur eine eigene Wirklichkeit herzustellen, die Freiheit, diese Wirklichkeit im zeichnerischen Prozess immer wieder zu verändern.

Aneignung und Verwandlung des Sichtbaren sind wesentliche Impulse sowohl für Zaumseils Skulpturen wie für ihre Zeichnungen. Die Künstlerin reist in den Himalaya nach Ladakh und sieht das schroff gefaltete, zu Graten aufgeschobene Gestein, sie reist nach Ägypten und sieht die farbige Unterwasserwelt des Roten Meers, sie sieht Landschaften und Architekturen, Wolken und Rauch, die runden Formen von Früchten mit ihren Öffnungen, die Abgründe sind, die Haut eines Kugelfischs mit Stacheln wie Waffen, die verwirbelte Flauschigkeit eines Fells. Alles, auch das Zeitungsfoto, kann visueller Anlass werden für einen gestalterischen Prozess, der das Nahe und Ferne, das Kleine und Große in sich hineinzieht und eine andere Wirklichkeit herstellt mit ständigen Wahrnehmungsverschiebungen. Das Fell ist ebenso wogendes Getreide, Feld elektrischer Entladungen, die Stachelhaut des Kugelfischs ist metallisch verpanzerte Landschaft, Topografie eines unbekannten Planeten.

Auch in der Zeichnung agiert Zaumseil als Forscherin, die die Beschaffenheit und Wirkung von Oberflächen und Materialien erkundet, der sanft verwehende Dunst einer Wolke, die glänzende Härte eines Steins. Die Dinge zeigen sich für das Auge taktil und wehren das Berühren doch entschieden ab. Zaumseil stellt die Welt begreifbar und konkret vor uns hin und distanziert sie zugleich in ein anderes. Wie anders ist es erklären, dass die Künstlerin ein anschauliches Erlebnis, das sie überwältigte, einer solch nachdrücklichen Metamorphose unterzieht? Der Reichtum der bunten Fische und Korallen, das flüssige Blau des Wassers, das sie vor Ägypten sah, schwindet in eine endlos sich hinziehende düstere Wüste aus Steinen, über die der Betrachter ohne festen Standort und ohne Orientierung hinweggleitet. Nur das unscharfe Flackern der Formen erinnert an die Bewegung des Wassers. Und doch ist es ist eine Verwandlung in das eigene Reich von Schwarz und Weiß, das vielgestaltige Spiel von Licht und Dunkel der Zeichnung. Zaumseils gezeichnete Welt will keine sein, die sich schnell vereinnahmen lässt und uns bestätigt, sie will eine sein, die gerade in der Nähe zu unserer Welt eine unbewohnbare Fremdheit bewahrt.

  • Volker Adolphs in: Unbetretbare Orte 2013
  • Städtisches Kunstmuseum Singen
  • modo Verlag