Am Rande der Wirklichkeit

„Und die Reise geht sonntagnachmittags … nicht nur ins Grüne, sondern auch zu den geheimnisvollen Schwellen.“ 1
Walter Benjamin

Es ist eine lockende Vermutung, dass Walter Benjamin mit diesem Bild nicht nur die sonntäglichen Besuche in die Wohnungen der Verwandten im Auge hatte, sondern womöglich auch die Schwellen von der Wirklichkeit in das Geheimnis von Erinnerung und Traum. Denn ist doch „die Welt, die wir wahrnehmen, ein Apparat großer Ausdehnung und Komplexität, und unsere Erfahrung dieser Welt – selbst Teil von ihr – eine Mischung aus sinnlicher Wahrnehmung, Erinnerung und Traum und verschließt sich jeder vollständigen Untersuchung oder Beschreibung.“2

Auch für Andrea Zaumseil liegt hier – in der Erinnerung an das Wahrgenommene – eine wesentliche Inspiration für ihre Bildwelten, neben der unmittelbaren Anschauung von Wirklichkeit bzw. deren Reproduktion in Zeitungen und eigenen Fotos. Dass sie diese Quellen in Abbildungen und eigenen Texten bewusst offen legt, bedeutet mehr als einen Akt der Ehrlichkeit – ihr Hinweis zielt auf Abgrenzung von der Wirklichkeit und ihre Transformation in – im besten Falle – Weltbilder, die das Innere der Dinge offen legen. Solche Auseinandersetzung mit Abbild und Wirklichkeit trifft auf Zaumseils plastisches Arbeiten ebenso zu wie auf ihre Zeichnungen.

Hier mag ein kleiner Exkurs zur Begriffsklärung beitragen. Selten ist Zeichnung, wenn sie nur auf Papier und Stift gründet, sowenig Zeichnung im engeren Sinn wie hier, bleibt sie doch anderswo selbst in ihren avanciertesten und experimentellsten Ausprägungen immer an die Linie gebunden. Andrea Zaumseil aber entwickelt ihre Arbeiten stets aus dem flächigen, eher malerischen Farbauftrag, wenn sie die Pastellkreide nicht als Stift benutzt sondern mit der Längsseite über und in das raue Papier reibt und mit den Fingern, ja mit der Hand die Ausbreitung des staubigen Pigments in die Fläche und in die Tiefe vorantreibt. Der Terminus Papierarbeiten scheint hier trotz der umfassenderen Bezeichnung viel eher zutreffend, weil er sich auf den Hinweis auf das Trägermaterial beschränkt und das künstlerische Verfahren offen lässt.

Von Beginn ihrer künstlerischen Tätigkeit an gehen Bildhauerei und Arbeiten auf Papier parallel. Dies geschieht jedoch nicht in der tradierten Unterordnung von vorbereitender Zeichnung und ausgeführtem Objekt oder umgekehrt in der Übertragung der Stahlarbeiten auf das Papier, sondern stets unabhängig voneinander in autonomen Werkgruppen. Was beide verbindet, ist die Behandlung von Volumen und Raum in Gestalt dunkler, biomorpher Körper und Gefäße. Ob aus Stahl geformt oder aus dem Papiergrund sich wölbend, muten sie bis in die 1990er Jahre mit ihren schlundartigen Öffnungen aus dem Inneren wie pulsierende Organe an mit Ausstülpungen und stachelförmigen Fortsätzen, die mitunter trompetengleich anwachsen oder in Schläuche münden und von beinahe surrealer Anmutung zwischen poetischem Reiz, erotischer Konnotation und aggressiver Bedrohung changieren.

Verbindendes Element von Plastik und Papierarbeiten ist auch die Konzentration auf Schwarz und allen Nuancen vom grellen Weiß des Papiers bis zur puderigen, Licht verschlingenden Dunkelheit. Andrea Zaumseil selbst dient die Beschränkung der Palette zur Verfremdung der realen Welt, um vergleichbar der Schwarzweiß-Fotografie, den Blick zu konzentrieren und zu schärfen – nicht mehr und nicht weniger. Wenn Richard Serra dem Schwarz die größtmögliche plastische und raumbildende Qualität zuweist, so findet sich darin auch ein Schlüssel für Zaumseils Werk.3

Mitte der 1990er Jahre setzt schließlich auch eine motivische Emanzipation der Papierarbeiten vom plastischen Werk ein. Noch auf dem großformatigen Blatt Tisch mit sechs leeren Kochgeschirren von 1991 erscheinen voluminöse Schüsseln dicht an dicht zusammen geschoben auf einem Tisch. Auch wenn dessen Platte aperspektivisch in die Fläche geklappt wird, steht doch die dinghafte Wirklichkeit der dunklen Schalen mit ihrem hellen Inneren im Vordergrund. In den beiden großen Arbeiten Ohne Titel, 1994 verbinden sie sich im mehr oder minder strengen Rhythmus zu dichtesten Agglomerationen ohne jede Verortung im Raum, jedoch wird der Topos des bauchigen Gefäßes als überdimensionaler Archetypus kurz vor seiner Auflösung geradezu gefeiert: in rhythmischer Wiederholung drängen sich die lagernden Volumen aus Bauch und kreisrunder Öffnung auf dem hellen Grund nach vorn oder schwärmen mit fischmäuligen Mündern gierig übers Blatt. Gerade in diesen Arbeiten wird eine Analogie zu Lebewesen evident. Womöglich findet sich hier in der großen Naturnähe der organischen Formen ein Grund dafür, dass wenig später der Dingcharakter (fast) ganz aufgegeben wird und lediglich der Rand der runden Öffnungen bleibt. Er mag als Referenz seiner Herkunft aus dem Gefäß dienen, der Körper ist nun aufgelöst und in eine diffuse dunkle Fläche eingeebnet. Damit vollzieht Andrea Zaumseil auch einen Wechsel im Bildkonzept. Der Papiergrund ist nicht länger bloße Folie für die voluminösen Körper, sondern emanzipiert sich als Bildraum, Figur und Grund treten in Beziehung. An diesem Punkt der Entwicklung setzt das vorliegende Buch ein.

<p „>Die Abkehr vom Abbild des hermetisch geschlossenen Körpers hin zum Rudiment seiner Öffnungen im Bildgrund geschieht in der Gruppe der Kraterlandschaften nicht unter Verzicht auf Volumen und Raum. Unser Auge, ohnehin stets auf das Aufspüren von Gegenständlichkeit bedacht, findet Anklänge an eine andere Wirklichkeit: es sieht Krater und empfindet die Vorstellung von Territorien vulkanischer Landschaften. Die verbliebenen Gefäßränder nämlich sind jetzt alles andere als bloße Kontur. Sie sind mit subtilen Abstufungen von Schwarz als wulstige Ringe oder dünne Lippen ausgebildet und erheben sich aus der mehr oder weniger lebhaft mit Kreide modulierten Ebene. Ein schmaler Lichteinfall von der Seite beleuchtet und verschattet die Kanten und lässt aus ihrem Inneren ein Stück konkaver Wandung schimmern bevor satte Schwärze den Blick in die Tiefe schließt. Andrea Zaumseil variiert das Thema vielfach. Vom heft- bis zum wandfüllenden Format treten die ‚Krater’ als Solitär, in Gruppen oder die gesamte Bildfläche besetzend auf, mutieren zu Strudeln und bieten dem Auge Halt im Meer der dunklen Landschaft. Sie verdichten sich in der Ablösung von jeder äußeren Erscheinungswelt und ohne jeden Verweis auf außerbildliche Sensationen zu einer Atmosphäre der Geladenheit, weil Imagination an die Stelle von Simulation der Wirklichkeit tritt und die Metamorphose der äußeren in die inneren Bilder gelingt. Ohne schützende Rahmung, direkt auf die Wand geheftet, bieten Zaumseils Kreidearbeiten in aller Verletzlichkeit ihrer Oberfläche dem Betrachter die Stirn, d. h. die Unmittelbarkeit der malerischen Behandlung und der taktile Reiz von Kreide und Papier münden in ein sinnliches Erleben. Im Sog der samtig dunklen Bilder erfährt das Gegenüber die Immersion ins Bildgeschehen anstelle gespiegelter Betroffenheit.

Als Bruch mit den organischen Formen der Krater und ihrer Landschaften mag die unmittelbar darauf folgende Gruppe der Architekturen erscheinen. Es sind kantige Gefache, konstruiert aus senkrechten und waagrechten Flächen, sie werden als offene und geschlossene Räume um- und ineinander geschoben und in der Höhe gestaffelt. Wie in den Kraterlandschaften bildet nuanciertes Hell-Dunkel Tiefe aus. Die schillernde Wechselwirkung von Figur und Grund als positiver und negativer Form wird Thema im Gesamtwerk bleiben. Das Spiel von Licht und Schatten und die Blickführung werden zunehmend differenzierter und das Formenrepertoire der Architekturen vielfältiger. Statt bloßer Draufsicht auf die kantigen Waben, welche die Anmutung archäologischer Grabungsfelder befördert, erfolgt die Ansicht nun auch diagonal geführt von schräg oben oder aus dem Inneren dunkler Gänge von unten nach oben ans Licht. Irritierende Nahsicht und Durchblicke auf monumental ins Bildfeld gesetzte Wände, Treppen und Gänge komplizieren die Orientierung bis zur Unmöglichkeit. Bedrängend docken die tür- und fensterlosen Kammern aneinander an und die Verzahnung der blockhaften Wandplatten ineinander erscheint gewaltsam. Die Wände bezeichnen Barrieren statt Zugang zu schützendem Raum. Unausweichlich stellt sich das Gefühl von Bedrohung ein und die Atmosphäre der Gefahr wird durch die Leere der katakombengleichen Schächte und Labyrinthe noch gesteigert. Andrea Zaumseil zeigt unbewohnbare Architekturen, Versatzstücke von nur vermeintlichen Behausungen, die ihr Versprechen, Obhut zu gewähren, nicht einlösen. Nicht von ungefähr gibt sie einem der Zeichenhefte aus dieser Werkgruppe den Titel Die Behausungen des Tantalos, gewähren doch die antiken Götter dem phrygischen König als Strafe für seinen Diebstahl an der Göttertafel stets nur die Verheißung von Nahrung und nie die Früchte selbst.

Als brächen sich die immer undurchdringlicheren Architekturen Bahn und mündeten in die grenzenlose Weite des Meeres, erscheinen die Seestücke aus dem Jahr 2002. Anstelle der engen und ausweglosen Kammern eröffnet Andrea Zaumseil nun die unendliche Weite des offenen Sees, der ihr Aufwachsen am Bodensee geprägt hat. In freiester malerischer Behandlung bedeckt sie das ganze Blatt mit fließender, nicht greifbarer Materie. Die komplizierten Bildarchitekturen und Perspektiven sind nun aufgegeben zugunsten der simpelsten aller Bildanlagen, nämlich der Aufteilung in Vorder- und Hintergrund für See und Horizont. An die Stelle der Hochformate treten nun Querformate als klassisches Kompositionsprinzip von Landschaftsdarstellung. Zum entscheidenden Moment wird jetzt die Einführung von Bewegung. Die unruhige Oberfläche des Sees mit Wellenbergen, Wogen, Strömungen und Bugwellen wird zum zentralen Motiv und setzt sich entschieden von der Stille und Regungslosigkeit der Kraterlandschaften und der steinernen Manifestationen der Architekturen ab. Nur selten weitet sich der Himmel zum hohen Horizont und entfaltet romantische Dimensionen. Häufig drängt das Wasser bis an den oberen Bildrand und verortet den Betrachter mittendrin, ihm bleibt kein sicherer Standort. „Schwimm!“ nennt Andrea Zaumseil eine Serie dichter Papierarbeiten und appelliert mit dem knappen Imperativ an die Bewältigung des Sees und seiner Wassermassen in der ganzen Ambivalenz von Lust und herausforderndem Kampf ums Überleben. Denn der See verheißt hier nicht sommerliches Badevergnügen und erfrischende Abkühlung in der spritzenden Gischt, kein heiteres Spiel der ans Ufer schlagenden Wellen, nicht einmal Ufer, nur Wasser und Horizont. Die impressionistische Auflösung von Wasser in die Atmosphäre glitzernder Lichtreflexe, worin alle Leichtigkeit von Sonne und Sommer eingefangen sind, ist in ihr Gegenteil verkehrt. Der See ist hier als schwere, dunkle Masse den klassischen ‚Seestücken’ des 18. und 19. Jahrhunderts näher. Er erscheint als unruhige, dunkle Landschaft aus Erhebungen und Tälern in die wenig Licht fällt, der Himmel ist fahl bis rabenschwarz. In weichen Lagen werden die schweren Wellen modelliert, in dynamische Diagonalen vorwärts drängend oder in wilden gegenläufigen Strömungen sich auftürmend. Selbst dort, wo sich die Oberfläche beruhigt, tauchen dramatische Hell-Dunkel-Schattierungen die Szenerie ins Bedrohliche. Dass Andrea Zaumseil mit der Bewegung erstmals und einzig in ihrem Werk das Moment der Zeit einführt, ist eine Besonderheit der Seestücke, weder zuvor noch danach gerinnt der angehaltene Moment zum Bild. Nur in den beiden Hochformaten aus dieser Reihe ereignet sich fast schon der dialektische Sprung von Augenblicksaufnahme zum Zustandsbild. Die Woge wird hier zu einem einzigen großzügigen Schwung von dünnen Wellensäumen formalisiert und zwar in so klar gestaffelten Licht- und Schatten-Reihen, dass die Ordnung wieder Oberhand behält und sich die Bildstruktur dem Ornamentalen annähert. Alle Materialität ist zurückgenommen und die Bewegung eingefroren. Sicher, das geht auf Kosten der Anschaulichkeit. Ob das Motiv Welle ist, ob Grat oder Faltenkante muss oder soll offen bleiben.

Man mag diese beiden Beispiele als Zwischenbilder zu jener Gruppe nehmen, die Andrea Zaumseil unter dem Titel Tausendeck meines Landes (nach einem Gedicht Ingeborg Bachmanns) zusammenfasst). Der Betrachter sieht sich wieder auf Distanz genommen, sein ‚Standort’ ist jetzt eher auf der sicheren Seite, ganz oben jenseits von unmittelbarer Bedrohung, wenngleich sich aus der Vogelperspektive Abgründe in tiefe, dunkle Spalten auftun. Wiederum Hochformate und wieder im hellen Licht scharf konturierte Kanten, jetzt aber wird das Gefüge steil in die Diagonale aufgerichtet, auf nur wenige Grate und Bewegungslinien reduziert, die aber aus dem eben noch schmalkantigen Plissee zurück in die Körperlichkeit großer Formen überführt sind. Ist das hier Gestein und Geröll? Die Oberfläche unterscheidet sich nicht prinzipiell vom Wasser in den Seestücken. Es ist die Form der massigen Volumen, welche die Vorstellung von Bergrücken nahe legt – und gleichzeitig widerlegt, denn die mächtigen Körper laufen parallel oder in einem imaginären Fluchtpunkt zusammen, allerdings so steil aufgerichtet, dass sich die Vorstellung von Landschaft nicht recht einstellt, trotz Grat und Furchen und hell beschienenen Hängen über dunklen Spalten.

Ob Gebirgsschluchten, Schächte oder Krater, es geht hier nicht um Katastrophenräume, wie sie Arnulf Rainer oder Miriam Cahn in verwandter Technik zeigen. Rainers Hiroshima-Zyklus (1982) bleibt trotz aller Übermalung der Katastrophenfotos hart an der realen Topographie und auch Miriam Cahn hält in ihren riesigen Kreidestaubzeichnungen Strategische Orte (1985) an der Illusion von Landschaft fest. Der wesentliche Unterschied liegt woanders: Im bedrängenden, expressiven Gestus und ungestümen Temperament ihrer Werke reproduzieren Rainer und Cahn die eigene Betroffenheit und rufen sie im Betrachter wach. Zaumseil bleibt auf Distanz, agiert nicht in spontaner Aktionsmalerei und subjektiver Ausdrucksgeste, sondern baut die Bilder mit Bedacht und reibt die Kreide wohl überlegt, mit Umsicht ins Papier. Ihre Orte künden nicht von Schrecken und Entsetzen, Das Unbehagen mancher Bilder kommt aus einer anderen Quelle. Wo dem Betrachter jeder feste Standort entzogen ist, wo Maßstäblichkeit aufgehoben und Perspektive ver-rückt werden, wo Materialität im Unklaren bleibt und Wirklichkeit als Andeutung der Erfahrungswelt aufscheint, erwachsen dem Betrachter die Abgründe der Ahnung, das Uneindeutige, das zum Monströsen neigt und alle Ambivalenz von Licht und Schatten in sich birgt.

Ganz dicht an Tausendeck meines Lands steht die Gruppe der Faltungen. Zwar wird die Dynamik der Grate in den Zustand großer Faltungen überführt, doch sind Motiv und plastische Auffassung in beiden Gruppen eng verwandt. Die dort als Lichtkonturen gezeichneten Grate werden hier zu weichen, runden Tüllen und groben, ungeordneten Falten im dicken Stoff. Der Saum am Boden bauscht und staucht sich in Taschen wie Stoffservietten, die ihres gestärkten Kniffs müde geworden, in dichten Lagen mützen- und maulartige Öffnungen ausbilden. Findet sich hier ein Verweis auf Figürliches? Immerhin deuten zwei Arbeiten Kopf und Gestalt unter den Verhüllungen an. Diese geheimnisvollen ‚Portraits’ geben allen sakralen und profanen Assoziationen Raum, den die kunsthistorische Metapher für Schutz, Verhüllung, Verborgenheit bis zum Verweis auf Trauer, Tod und Vergänglichkeit bereithält. Nicht von ungefähr ist die Reihe mit Melancholia bezeichnet. Und nicht von ungefähr steht sie in engem Zusammenhang mit der kleinen Werkgruppe So wollte Welt noch einmal gesagt sein. Im Angesicht der dem Tod nahen Mutter formt Zaumseil Falten und Grate zu deren Profil, das Gesicht wird eine einzige Landschaft mit weichen Erhebungen und Spalten für die Öffnungen von Mund und Augen, deren glänzende Wölbung Welt ein letztes Mal widerspiegelt. Halb- oder Dreiviertelprofile vor schwarzem Grund, sind diese von Trauer genauso wie von zugewandter, eindringlichster Beobachtung geprägten Gesichter als große Ausnahme im Werk ganz dicht an der Wirklichkeit. Jedoch wird der Kopf im Dunkel der Kreide ganz isoliertes Volumen, vergleichbar Constantin Brancusis lagernden Köpfen, scheinbar losgelöst vom Hals, ja vom ganzen Körper, der hier im letzten Moment nicht mehr zählt.

Fast einem Paradigmenwechsel gleich kommen die eher kleinformatigen Papierarbeiten der Stillleben. Was zunächst an kunstvolle Arrangements aus gepflückten Blumen, geerntetem Obst und totem Tier denken lässt, bezeichnet nichts anderes als Felle – Stillleben verweist auf ihre Herkunft aus dem Lebendigen, das nun als tote Materie zum Objekt des Interesses wird. Erstmals interessiert hier die die Struktur der Oberfläche. Nun kann man natürlich sagen, dass auch bisher in den Bildern haptische Qualitäten entfaltet wurden, also das Erdige der Kraterlandschaften und Bergrücken, die Härte der Mauern in den Architekturen, die Wellen der Seestücke, ja sogar den textilen Griff der Tücher – und dennoch: war es nicht vielmehr die Vorstellung, die sich über die Form der Bildgegenstände einstellte und weniger die Charakterisierung ihrer Oberflächen? Der staubige Sand, die Textur der Mauern und Gewebe, die Poren der Haut blieben unbezeichnet. Jetzt aber in den Stillleben feiert das Haptische, die spezifische Oberfläche Triumphe, man spürt förmlich den Griff in das weiche, gescheckte, lange Haar des Fells. Zu seiner Schilderung kommt auch die Linie zum Einsatz, wenn kurze dunkle Kreidestriche und helle Ausradierungen Wuchsrichtung und Wirbel modulieren. Die Felle wiederum sind nicht in der Fläche ausgebreitet, sondern vergleichbar den Tüchern als bewegte Volumen drapiert, sei es hängend oder als dicker, wulstiger Ring, der sich um ein dunkles Inneres legt, als hintereinander gelagerte Zonen oder gar als Grat, wenn Wuchsrichtungen aufeinander stoßen. So gesehen variieren die Felle die bislang erprobten Bildanlagen, jetzt aber mit aller Hingabe an ihre spezifische Materialität. Nahsicht, Draufsicht und wechselnde Perspektiven verhindern, dass Fell zum Tier oder Pelz zum Mantel wird und erreichen, dass alle Bilder offen bleiben.

Von der Faszination der Materie künden auch die Himmelsbilder, 2009. Als gälte es, nach Erde und Wasser das vierte Element einzuführen, wölben sich riesige Agglomerationen aus kondensiertem Wasserdampf zu vielfältigen, runden Wolkengebilden. Kumuluswolken jeder Größe fasern am Rand aus, docken aneinander an und schieben sich als mächtige Einzelformen oder dicke helle Wolkenfelder vor das Schwarz des Himmels. Mit allen Schattierungen von hellem Grau gelingt die Dinglichmachung der flüchtigen und stets sich verändernden Materie. Anschaulich wird nicht nur der (im Bild angehaltene) ständige Prozess des sich Lösens und wieder Verbindens der flauschig Wolkenkugeln. Im Wuchern der luftigen Formationen wird auch etwas anderes sichtbar: der Prozess des Zeichnens in seiner Wechselwirkung von Zufall und Absicht samt aller Behauptung gegen die wachsende Eigengesetzlichkeit der Komposition und mit der notwendigen Balance zwischen Eintauchen (kopfüber im Bild das Blatt auf dem Tisch oder Boden bearbeiten) und Distanznahme (also das Blatt aufhängen und kontrollierend auf Abstand gehen).

Zwei Jahre später im Zeichenheft Himmel ohne uns, 2011 verschlanken sich die schwebenden Wolkenagglomerationen allmählich zu rauchsäulenartig aufsteigenden Formationen, die sogar aus der Vertikalen in die Diagonale führen um sich mitunter wie dicke Kondensstreifen am Himmel zu kreuzen. Ihre Bewegungsrichtung nimmt die der Bergrücken in Tausendeck meines Lands auf und verschärft sich zu Richtungspfeilen in der gleichzeitig entstehenden Gruppe der Torni. Was jedoch im Zeichenheft als dicke Wolken daher kommt, hebt sich in dieser Gruppe von eher kleinformatigen Arbeiten nur als flache, dunkle, fast schon grafische Winkel aus dem hellen Grund. Alles Volumen und aller Raum sind auf nicht viel mehr als auf reliefartige Erhebungen aus der Fläche reduziert, so sehr, dass sich beinah die Anmutung von geriffelten Blechen einstellen mag. Solche Materialität mag sich aus der metallischen Härte der scharfkantigen Zacken herleiten in Zusammenwirkung mit ihrer fast kristallinisch klaren, geometrischen Form und ihrer dichten Setzung. Für eine rasterähnliche Ordnung zwar zu unregelmäßig und auch in zu unterschiedliche Richtungen divergierend, reihen sich die Winkel schon eher zum Ornament als strukturierendem Faktor in einem von mimetischen Aufgaben entbundenen Feld. Solche Tendenz zum Ornamentalen findet sich, wenngleich teilweise nur in Ansätzen, auch schon in früheren Arbeiten wie dem Himmelsbild jedoch nirgends derart ausgeprägt.

Die ‚Verflachung’ des Bildgegenstands und die Tendenz zur Einebnung in den Bildraums wird hin und wieder durchbrochen, so, wenn der Lichteinfall die Dreiecke zu Stufenkanten im dunklen Raum modelliert oder wenn Grate als erhabene Formen ausgebildet werden, die im nächsten Moment jedoch als schlitzartige Schnitte in den weichen Grund à la Lucio Fontana erscheinen. Das Auge pendelt in solchen Vexierbilden hin und her im Bemühen, Figur und Grund zu klären. Was Andrea Zaumseil interessiert, ist die unterschiedliche Identität des vermeintlich Einen und die Wechselwirkung von innerer und äußerer Erscheinungswelt. Wenn es stimmt, dass das Ornamentale auch Ausdruck eines inneren Systems der Dinge sein kann, wäre der Kreis geschlossen.4

Die Vielfigurigkeit der Torni prägt auch die Bildstruktur der großformatigen Papierarbeiten aus dem Konvolut Dort. Formieren sich die Winkel der Torni zu schwarmartigen Bewegungen, ballen sich hier die kleinen kegelartigen Erhebungen zu dichten Ansammlungen, allerdings weniger zielgerichtet und weniger regelmäßig in ihrer Besetzung des Blatts. Wo sich die harten Zacken in Torni fast wie präzise Stanzungen präsentieren, modelliert das Licht hier kleine, organische Kuppeln im Humus eines weichen Bodens. Ihr quirliger Rhythmus in dem flirrenden Hell-Dunkel mutet mitsamt den hell beschienenen Leerstellen wie kleine Platzausbildungen, beinahe wie ein beseeltes Gemeinwesen an. Alle Bewegung geht vom Betrachter aus, dessen Draufsicht nicht im festen Standpunkt ruht, sondern in der fließenden Bewegung des Schwimmens zu geschehen scheint. Wasser teilt sich jetzt ganz anders mit als in den Seestücken, nicht als körperhafte Materie, sondern als verschwimmende Kontur und als schwankende, glitzernde Lichtreflexe, die sich unregelmäßig in den Kuppen brechen. Motiv ist jetzt nicht der ungestüme See, gegen den es zu kämpfen gilt, sondern die Welt unter Wasser. Wie von Spielfiguren im Sand besetzt, erscheint der Bildraum, alle Monumentalität, alle Spalten und Abgründe sind aus ihm gewichen und es entfaltet sich eine Atmosphäre des Heiteren, die von der Lust und Entdeckerfreude ihrer Erkundung kündet.

Was spontan den Zauber des Meeresboden hervorruft, erweckt im nächsten Moment den Anschein einer nächtlichen Ansiedlung vom Flugzeug aus gesehen mit Lichtern hie und da. Geht es in Andrea Zaumseils Werk nicht stets um Vexierbilder? Wo Figur und Grund das Auge immer wieder täuschen, wo Vorstellungsbilder ein ums andere Mal wechseln, wo Schutz und Geborgenheit zugleich mit Unbehaustsein und Gefahr zugegen sind? Und führen Zaumseils Bilder damit nicht den Diskurs über das Sehen überhaupt? Wären nicht auch die ‚Nahtstellen’ in den großformatigen Papierarbeiten, die sich aus kleineren Formaten zusammensetzen ein Indiz? Sicher, das macht sie handhabbar und zugleich austauschbar, bis Blatt für Blatt sich als ein Ganzes fügt. Mehr aber teilen die Stoßkanten unmerklich das Bild in kartographische Raster ein. Geht es in Zaumseils Arbeiten nicht auch um ein Vermessen? Unter Verweis auf das unendlich Weiterreichende wo alle Kompositionen Ausschnitt sind? Ob Berge, See oder Horizont, ob Erde, Wasser, Himmel, ob Häuser oder Haut als Fell und Fischhaut – Motiv sind die Ur-Elemente einer alten, überzeitlichen Gegenwart. Als Archetypen von Landschaft und Behausung reflektieren sie Mikro- und Makrokosmos und letztendlich Welt. Diese Bilder bewahren in all ihrer Poesie, Kraft und Sinnlichkeit ihr Geheimnis im Zwischenreich von Anschauung, Erinnerung und Empfindung, bleiben im doppelten Sinn unscharf. Schwarz lässt wie kein anderer Ton eine Vielfalt von Nuancen zu und ermöglicht jene Unschärfe, die Unbestimmtheit spiegelt. Wenn diese laut John Ruskin die Bedingung visueller Erkenntnis ist, dann scheint sich solche Unschärfe, gepaart mit der Unbestimmtheit ihrer Orte, im Werk von Andrea Zaumseil als Erkenntnis stiftend zu erfüllen, eine Erkenntnis, die hier aber alle Sinne umfasst. Denn im Vis à Vis mit den Papierarbeiten wird auch etwas ganz anderes sichtbar: das Abenteuer der Erzeugung von Bildern mit aller Lust am Tun – „zwischen Wachheit, Rausch und Traum“ (Andrea Zaumseil) und es überträgt sich mit aller Vehemenz auf Aug’ und Hirn des Betrachters gleichsam als „ins Meer des Visuellen ausgeworfene Netze.“ 5

 

1) Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, Bd. V-1, Frankfurt am Main, 1982, S. 283
2) Hank Hine, Blatt, Rücken, Wort, Zeichen, Künstlerbücher aus der Werkstatt von Hank Hine, in: Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn, Staatl. Kunsthalle Karlsruhe, Leaf, Spine, Word, Sign, Künstlerbücher, Düsseldorf 1999, S. 127
3) R. Serra in: Ausst.-Kat. Collection Art Graphique, La Collection du Centre Pompidou, Paris 2008, S. 443
4) s. Hans Zitko, Rationalisierung im Dienste der Tradition, Ornament und Serie in der Kunst der Moderne, in: Ornament und Abstraktion, Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog, Ausst.-Kat. Fondation Beyeler, Köln, 2001, S. 57
5) Marilena Pasquali, Lichtspuren, in: Thomas Müller, Opere su carta, Ausst.-Kat. Galleria Torbandena, Triest 2001

 

  • Ruth Diehl in: Unbetretbare Orte
  • Städtisches Kunstmuseum Singen 2013
  • modo Verlag